Konkrete Utopie 15/16 – Teil 3: Theater-Szene in Straßburg
Die Utopie der Bühnenkünste wird konkret, wenn sich auch nur ein Zuschauer eine Karte für eine Vorstellung gekauft hat, sagt der Regisseur und Utopist Olivier Py. Welche Utopien und konkreten Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung bieten sich in dieser Saison in Oper, Konzertsaal und Theater in Straßburg?
(Von Michael Magercord) – Wenn es eine Kunst gibt, deren Utopie anarchistisch ist, dann ist es das Theater. Es ist so unberechenbar, dass der neue Intendant des Nationaltheaters von Straßburg Stanislav Nordey, der auch Regisseur ist, sagt: „Das Theater ist ein gefährlicher Ort, denn alles kann darin passieren.“ Und was? „Ein Schauspieler oder ein Zuschauer könnten etwa besoffen sein, und dann ist alles möglich!“ Und weil es dort so menschlich zugeht, behauptet sein Regiekollege Arnaud Desplechin: „Wenn wir das Leben lieben, gehen wir ins Theater, wenn wir meinen, wir müssten uns vor dem wahren Leben in Acht nehmen, gehen wir ins Kino.“
Nüchtern betrachtet sieht Stanislav Nordey, dass sich die wahre Utopie des Theaters aus der Dynamik zwischen Autor und Schauspieler speist. „Die Schauspieler müssen den Text des Autors atmen, der Regisseur“, sagt der Regisseur, „sagt doch nur, wo die Figuren herumstehen müssen“. Da würde sich der Geist der Utopie des Regietheaters im Grabe umdrehen, der in Deutschland als Untoter noch quicklebendig über die Bühnen spukt. In Frankreich konnte sich die huschige Idee eines von einem allmächtigen Regisseur bestimmten Bühnenspektakels, das oft von völlig vom Inhalt Stückes losgelösten Schnickschnack überfrachtet wird, nie wirklich durchsetzen.
Théâtre National de Strasbourg (TNS)
Das TNS ist eines der renommierteste Theater Frankreichs und gilt mit seiner angeschlossenen Schauspielhochschule als führende Durchlaufstätte für kommende Bühnenstars. Die Spielstätte befindet sich im einstigen Parlament von Elsass-Lothringen, ist also und als Bühne für großes Theater bestens geeignet, und wer es nicht erwarten kann, einmal selbst an Ort und Stätte zu sein, der darf noch in diesem Monat zusammen mit – vermutlich meist nüchternen – Schauspielern und Zuschauern auf Godot warten. Vom 18. bis zum 28. November wird der große Klassiker des so genannten absurden Theaters gespielt, was aber vielleicht gar nicht absurd ist, sondern nur den ganz normalen Wahnsinn darstellt: Menschen nämlich, die reden, reden und reden, weil sie nicht handeln, und sie handeln nicht, weil es sobald man anfängt darüber nachzudenken, nichts Sinnvolles mehr zu tun gibt, und man deshalb lieber redet.
Kriegt das Regietheater nun doch einen Fuß in die Tür auf die französischen Bühnen? Vom 30. November bis 3. Dezember inszeniert Christoph Marthaler das musikalisch angereichte Spektakel King Size, das wie immer bei ihm voller Anspielungen und Gesten sein wird. Das ganze Stück wird übrigens auf Deutsch aufgeführt. Und vor Weihnachten noch (11. – 16. Dezember) wird ein Projekt um Texte von Falk Richter das Theater für fünf Tage in eine offene Schauspielschule verwandeln. Lernwilligen Jungregisseure zeigen ihre Inszenierungen jeweils um 20 Uhr. Vormerken für das neue Jahr kann man sich sicher auch 4. bis 19. März, wenn in „Je suis Fassbinder“ Falk Richter den deutschen Filmemacher auf die echte Theaterbühne bringt. Dabei sein wird die bekannte Filmschauspielerin Emmanuelle Béart.
Übrigens werden einige wenige – zu wenige – Abende die Stücke Deutsch übertitelt, wie es in der Oper ja schon länger erfolgreich Usus ist, und zwar am 12. Dezember, 16. Januar, 7. April und 14. Mai. Die Eintrittspreise liegen ohne Ermäßigung bei 28 und 19 Euro.
Maillon-Wacken
Das Off-Theater Maillon ist in einer alten Fabrikhalle nahe dem Europaparlament bestens und stilecht untergebracht, aber klar, das kann ja nicht so bleiben. Ein Neubau muss her und so wird bis 2017 der alternativen Spielstätte, dem Ausstellungsraum und dem bislang doch so gemütlichen Café ein ganz neuer Glas-Beton-Kasten hingestellt sein. Mit 25 Millionen Euro sind die Baukosten veranschlagt, wobei jeder weiß, dass die letztlich verschlungenen um vieles höher liegen werden.
Zu sehen sein wird darin sicher kaum etwas anderes, als in dieser Saison auch schon, nämlich eine bunte Mischung von Theater, Tanz und sogar Zirkus. Immer wieder treten neue Gruppen auf, die aus allen Teilen Europas kommen, aber auch aus Afrika und den beiden Amerikas. Noch bis zum 7. November gibt es „visuelles Theater“ aus den USA unter dem Titel: „Youarenowhere“, Du bist Nirgendwo. Wo? Auf der alten Bühne in Wacken natürlich. Zum Ende des Monats kommt ein Ballett aus Belgien, und am 19. Dezember wird dort im Café eine Weihnachtsfeier stattfinden gefolgt von einem Konzert eines Folklore- und Weltmusik-Ensembles aus der Ukraine.
Daneben gibt es noch zwei Spielstätten, das Pôle Sud in Neuhof und Théâtre de Hautpierre, beide in Hochhaussiedlungen des sozialen Wohnungsbaus angesiedelt. Der nicht ermäßigte Eintrittspreis ist bei fast allen Aufführungen auf 23 Euro festgelegt.
Théâtre actuel et public de Strasbourg (TAPS)
Das „aktuelle und öffentliche Theater von Straßburg“ ist eine offene Bühne für freie Gruppen, die in der Region angesiedelt sind, aber auch aus dem ganzen Land anreisen. Das Motto der kommenden Saison fasst der Direktor Olivier Chapelet so zusammen: „Zusammenleben“.
Die Angst vor den und dem anderen zu nehmen, dazu soll Theater beitragen. Sollte es den Schauspielern gelingen, nicht nur die bereits Überzeugten zu überzeugen, alle Achtung, falls nicht, verbringt der Zuschauer immerhin einen anregenden Abend, was auch schon viel wert sein kann.
Die unterschiedlichen Theatergruppen werden auf jeden Fall engagiert ans Bühnenwerk gehen. Und oft sind ihre Stücke auch für jüngeres Publikum geeignet, ohne sich hoffentlich an die Bedürfnisse an unsere schnellen Zeiten und der Aufmerksamkeit heischenden Welt anzubiedern. Einen ersten Eindruck kann man schon bis zum 7. November bei dem Stück des englischen Autors Martin Crimp „La Champagne“ gewinnen. Die Straßburger Gruppe „Le Talon Rouge“ inszeniert die Beziehungskrise eines Paares, dass sich auf dem Land niederließ. Und am 12. November geht es erneut in die Natur, dieses Mal voller Gefühl: „La sens de la marche“ – ein Ausflug in die Landschaft ohne sich zu bewegen, nur durch die Sinne und Wahrnehmung, eine Autorenproduktion von Martin Adamiec mit der Kompanie Articulations.
Auch hier ein Hinweis auf vorweihnachtliches: Großes Theater des Autors Maurice Maeterlinck, der um die vorletzte Jahrhundertwende neben so manchen Opernlibrettos auch dieses Märchendrama Pelléas und Mélisande geschrieben hat, das später von Debussy vertönt wurde. Als Theaterstück erfährt ein Singspiel eine ganz andere inhaltliche Dimension. Die Theatergruppe „La Mandarine Blanche“ aus Metz wird vom 15. bis 18. Dezember dafür sorgen.
Spielorte sind übrigens die Laiterie nahe dem Bahnhof und die Scala im Stadtteil Neudorf. Der Einheitspreis beträgt ohne Ermäßigung einheitlich 15,50 Euro.
Vollständige Programme, weitere Informationen und Eintrittskarten unter:
www.tns.fr
www.maillon.eu
www.taps.strasbourg.eu
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