Künstlergespräch: Das Sehnen nach etwas mehr Normalität

Der Freiburger Bildhauer Pál Mathias‘ Galerie und der Dramaturg Florian Hellwig aus Amsterdam tauschen ihre Gedanken aus - es geht, natürlich, um die Kunst.

Florian Hellwig (links), Pál Mathias (rechts) und die Bronze-Skulptur "Hüter des Waldes (Mitte) dieskutieren den Kunstbegriff. Foto: Bicker

von Stefanie Schweiger

Freiburg. Wir befinden uns in Pál Mathias‘ Galerie, in der Ecke knistert der Schwedenofen. Florian Hellwig, freiberuflicher Dramaturg aus Amsterdam, wird in den nächsten Stunden ausführlich mit Pál Mathias über den Kunstbegriff, die aktuelle Lage des Kunstsektors in Holland im Vergleich zu Deutschland und mögliche Wege und Ideen, wohin sich Theater und Bildende Kunst bewegen könnten, diskutieren.

In den Niederlanden ist Florian Hellwig an verschiedenartigen Theaterprojekten beteiligt, vom Repertoirestück bis hin zum ‘Erfahrungstheater’. Er arbeitet mit verschiedenen Ensembles und Regisseuren. So hat er mit den Regisseuren Thomas Ostermeier und Franz Wittenbrink ganz unterschiedliche Projekte verwirklicht. Derzeit arbeitet er als Dramaturg und Programmgestalter für die international erfolgreiche Toneelgroep Amsterdam, die größte Theatergesellschaft der Niederlande. Für ihn ist die Bühne ein Experimentierfeld für Wirklichkeiten, ein Laboratorium für Utopien.

Pál Mathias ist aus der Freiburger Kunstszene nicht mehr wegzudenken. Der frühere Bühnenbildner, der z.B. für das Kinder- und Jugendtheater Freiburg (heute Theater am Marienbad) die Kulissen erschuf, schafft nun Bronzeskulpturen wie den Zentaur oder den Meeresgott Triton und veranstaltet regelmäßig in seiner Galerie Ausstellungen, wie die Drachenschau, über die das „euroJournal“ berichtete.

Im Gespräch heute wird nicht so sehr seine Kunst im Vordergrund stehen, sondern vielmehr wollen wir über die problematischen Entwicklungen in der Kunst- und Kulturszene in Deutschland und den Niederlanden, beispielhaft illustriert an den Städten Freiburg und Amsterdam, sprechen. Florian Hellwig, der Theatermann, der Dinge anstoßen, Menschen bewegen, der Theater revolutionieren möchte. Pál Mathias, der mit seinen eigenen Händen perfekt geformte wunderbare Wesen aus der Märchen-, Mythen- und Sagenwelt und der Antike schafft, immer mit einer persönlichen Note versehen.

Beide kennen den Kunst- und Kulturbetrieb von innen heraus nur zu gut. Kunst – was ist das überhaupt? Was wird darunter heutzutage verstanden und ist es vielleicht an der Zeit den Kunstbegriff neu zu definieren? Was ist der Sinn und Zweck von Kunst und der Stand des Künstlers und wie steht es um ihr und sein Ansehen heute? Aus einer Stunde werden im Nu zwei, drei, vier, fünf. Ein Gespräch mit Tiefe und dem nötigen Ernst. Inspirierend, amüsant, kritisch, intelligent.

Pál Mathias steht dem Begriff ‚Kunst‘ sehr gespalten gegenüber. Als Kompliment hört er viel lieber, dass seine Bronzeskulpturen perfekt gearbeitet sind, dass er ein „guter Handwerker“ ist. Früher waren die Auftragskünstler erstklassige Handwerker. Man denke an Michelangelo, der im Auftrag der Familie Medici in Florenz die berühmten Grabmäler schuf. Florian Hellwig stimmt ihm zu und sieht sich als Dramaturg auch als geschickten Handwerker. Die Zunfthose, die er trägt, scheint also kein Zufall oder gar Mode zu sein. Kunst entsteht auf dem Nährboden von solidem Handwerk, resümmieren beide. Pál Mathias bemängelt, dass viele Künstler nur noch „Hülsen“ produzieren. „Der Fehler beginnt schon, wenn jemand sich anschickt Keilrahmen und Leinwand zu kaufen“ zitiert Florian Hellwig Joseph Beuys.

Der Name Beuys ist gefallen. Der ‘erweiterte Kunstbegriff’ ist für Florian Hellwig elementar. „Ich wünsche mir, dass Kunst soziale Kontexte und Kohärenz erzeugen, bloßlegen und erfahrbar machen kann. Für mich ist Kunst ein Artefakt, der Ausdruck menschlichen Wirkens und Handelns. Etwas, das Kultur in sich aufnimmt und spiegelt, gleichermaßen historisch und visionär ist. Die Kunst erhöht unsere Kultur und macht sie erfahrbar.“

Florian Hellwig spricht jetzt von der Situation in den Niederlanden. Dort hat sich das Kunstklima bedenklich verschärft. Das Wort ‚Künstler‘ ist fast schon zum Schimpfwort und Stigma geworden. Die rechtspopulistische Politik, die Kunst als linke Elite abtut und massive Sparmaßnahmen im Kulturbereich durchgesetzt hat (die Amsterdamer Theaterszene wurde in den letzten Jahren fast halbiert) hat da sicher auch ihren Teil beigetragen.

Hellwig: „Der soziale, politische, historische Aspekt von Kunst, Kunst als Verbindungsfaktor und Brückenbauer, als kulturelles Gedächtnis, wird dabei negiert. Die Kunst wird immer stärker nach ökonomischen Kriterien beurteilt, ob sie sich selbst finanzieren kann. Dadurch wird sie immer stärker gezwungen sich an die Gesetze des Marktes zu assimilieren. Das bedeutet Effizienz, Ertrag und oftmals schlichtes Entertainment. Kunst als Konsumartikel und Geschäft. Schlimmer als die Einsparungen ist der gesellschaftliche Schaden an der Kunst.“

Florian Hellwig will nun von Pál Mathias wissen, wie es um die Kunst in Deutschland steht. Pál Mathias überlegt nicht lange. Die Kunst ist seiner Ansicht nach auch bei uns in einer schweren Krise. Pál Mathias regt sich ungemein über die „Kunstmafia“ auf, die dafür sorge, dass manche Künstler von heute auf morgen in allen Galerien von New York bis London hängen. Es werde nicht gefragt, wie gut oder interessant ein Künstler sei. Seilschaften zwischen den Galeristen bestimmten den Kunstmarkt. An einigen der gefeierten zeitgenössischen Künstler lässt Pál Mathias kein gutes Haar. Ein Bild ohne Titel ist für ihn untragbar. In seinen Ausstellungen hat er daher an alle ausstellenden Künstler die Vorgabe ausgegeben, dass ihre Werke Namen tragen müssen.

Vorzeigeschilder der aktuellen deutschen Kunstszene wie der kürzlich verstorbene Maler Jörg Immendorff, Markus Lüpertz, Georg Baselitz und Gerhard Richter – die ganze Düsseldorfer Clique – sind ihm ein Dorn im Auge. Als Beispiel nimmt er das beliebte Motiv von Baselitz: auf dem Kopf stehende Menschen. „Als Gag ganz gut geeignet“, meint Pál Mathias, „aber dass das als DIE Kunst verkauft wird!“ Mit Gerhard Richters Bildern kann sich Pál Mathias schon eher anfreunden, auch wenn er die extrem hohen Preise nicht nachvollziehen kann.

Über Lüpertz berichtet Pál Mathias folgende Szene, die er in einer Fernsehsendung verfolgt habe: „Bei der feierlichen Enthüllung von Lüpertz’ Aphrodite in Augsburg kam es zu Handgreiflichkeiten. Nachdem ein Besucher sich laut darüber beschwerte, dass die Stadt für so etwas Geld ausgebe, fing Lüpertz an, ihn zu schlagen. Später wurde er gefragt, ob er sein Verhalten in diesem Moment denn richtig fand. Seine Antwort war bloß, er könne nichts dafür, dass er ein so schöner Mann sei.“ Pál Mathias ärgert sich ungemein über ein derartiges, wie er sagt, „arrogantes Verhalten“ und kann sich gut vorstellen, dass sich auch viele andere Menschen darüber entrüsten und keinen Zugang zur Kunst finden.

 

Der Kunstsektor sei bei dieser Entwicklung nicht unschuldig, räumt Pál Mathias ein. Bereits Andy Warhol meinte auf die Frage, was für ihn denn Kunst sei: „Kunst, das ist ein Geschäft. Und große Kunst, tja, das ist ein großes Geschäft.“ Das fange damit an, dass meist zwischen dem Künstler und dem Käufer ein Händler zwischengeschaltet ist, der manchmal bis zu 80 Prozent des Endpreises kassiere. Somit stiegen die Preise ins Unermessliche. Oft würden die Künstler durch Verträge dazu gezwungen, dass Werke unter Verschluss gehalten würden, um sie dann nach einigen Jahren oder auch nach dem Tod des Künstlers zu noch besseren Preisen zu verkaufen. Der Künstler erhalte dafür eine monatliche Rente. Dazu kämen Exklusivverträge, die die Künstler teilweise stark einschränkten. Pál Mathias hat sich dazu entschieden, da nicht mitzumachen. Er ist lieber sein eigener Herr und verkauft seine Bronzeskulpturen in Eigenregie.

Florian Hellwig schaltet sich an dieser Stelle ein. Es sei schade, wenn Kunst zur Anekdote und rein ikonografisch werde. Er führt den Begriff des Archetyps ein und möchte das Gespräch weglenken von der kommerziellen Kunst, in der Kunst zum Konsumartikel wird. Durch Archetypen, also Vorstellungen und Bilder in unserem kollektiven Unbewussten, könne ein universeller Kontext zwischen Protagonisten und Publikum hergestellt werden, da dem Zuschauer die verwendeten Schablonen vertraut seien. Instinktiv verbinde ein Zuschauer das, was er sehe, mit Dingen, die er kulturell bedingt kennt.

Das „kulturelle Gedächtnis“ sei sowohl im Theater als auch in der Bildenden Kunst wichtig für die Wahrnehmung und Einordnung des Gesehenen. Florian Hellwig nuanciert, dass der Mensch Kunst zwar für das materielle, rein physische Leben nicht brauche, aber für das ästhetische Empfinden und für den Reichtum, der das Leben sei, brauche er sie doch!

Nach einer alten Tradition in Pál Mathias’ Heimatort wird für einen neugeborenen Menschen ein Baum gepflanzt. Stirbt dieser Mensch, so wird der Baum gefällt, und man erkennt an der Dicke des Stammes und an den Jahresringen, wie alt diese Person geworden ist. Holzbildhauer machen sich dann an die Arbeit und schnitzen Symbole in den Baumstamm, die verschiedene Ereignisse im Leben dieses Menschen darstellen. Diese kunstvoll geschnitzten Baumstämme sind ein Beispiel für das kulturelle Gedächtnis, das natürlich von Region zu Region variiert.

Florian Hellwig spürt im Theater immer wieder, dass die Menschen das Bedürfnis haben, etwas zu erfahren. „Wir leben in einem kommerziellen, materialistischen Zeitalter, gerade da wollen Menschen wieder  echte, originäre Erfahrungen machen. Die Kunst als Tempel, in den wir Menschen pilgern, auf der Suche nach etwas, was über das materielle Leben hinausgeht. Wir müssen zurück zum Archetyp, zu Ritualen, zur Ursprünglichkeit.“

Eine Skulptur kann ihren Besitzer aufheitern, ihm irgendetwas geben. Pál Mathias ermutigt seine Gäste immer, seine Skulpturen zu berühren, zu spüren. Es ist Kunst zum Anfassen. Florian Hellwig möchte das Publikum berühren und abholen. „Durch strukturelle Tätigkeiten und spezifische Codes können wir im Theater eine Welt einsehbar machen, die der ersten ähnelt oder über sie hinausweist. Durch Schönheit können Emotionen hervorgerufen werden, die uns helfen komplexe Zusammenhänge zu verstehen, die rational vielleicht schwer greifbar oder erklärbar sind.“

Amsterdam und Freiburg, beinahe 700 Kilometer voneinander entfernt; Florian Hellwig stellt einen interessanten Vergleich an. Beides reiche, progressive Städte, Universitätsstädte. Amsterdam findet er jedoch weltoffener. Das mag daran liegen, dass es eine Hafenstadt mit Verbindungen in alle Welt ist. Die Theaterszene in Holland ist zwar klein, aber verglichen mit der deutschen Stadttheaterlandschaft sehr innovativ.

„Jeder Nachteil hat seinen Vorteil’ hat die niederländische Fussballikone Johan Cruyff einmal gesagt“, erzählt Florian Hellwig. Der Mangel an Theatertraditionen und die fehlende Einbettung in den historischen Kontext seien in den Niederlanden jener Nachteil, der zum Vorteil werde. Das stimuliere jene Experimentierlust und die Öffnung hin zu neuen Formen. Trotz der Sparzwänge gebe es viele spannende Entwicklungen.

Laut Pál Mathias gibt es leider in Freiburg keine richtige Theaterszene mehr. Die einzige unabhängige Gruppe, die ihm einfällt, sind die Immoralisten in der Ferdinand-Weiß-Straße. Viele seiner Freunde aus früheren Zeiten sind inzwischen weggegangen, ins Ausland oder nach Berlin. Während einige große prestigebringende Institutionen wie das Freiburger Konzerthaus oder auch städtische Bühnen Unmengen von Geld verschlingen, bleibe für die freie Szene oftmals kein Geld mehr übrig.

Nach einem langen, intensiven Gespräch haben sich ein paar Dinge herauskristallisiert:

Erstens: in der Kunst liegt einiges im Argen. In Deutschland wie in den Niederlanden.

Zweitens: Das Bedürfnis der Menschen zu echten Erfahrungen und der Wunsch nach Ursprünglichkeit sind in der Bevölkerung vorhanden.

Drittens: Wir müssen zum Normalen zurückfinden! Der Archetyp ist entscheidend.

Die Kunst hat den großen Vorteil, dass sie Räume aufmachen kann. Die Menschen denken in ihrem Kopf weiter als das, was sie auf der Bühne oder auf der Leinwand sehen. Ein Theaterstück muss nicht neu geschrieben werden. Der Text hat sich schon tausendmal bewiesen. Was der Dramaturg macht, ist „neuschöpfen“. Als Theatermann wie auch als Bildender Künstler muss man die Leute abholen – vor allem die, die von sich selbst sagen, dass sie nichts von Kunst verstehen.

Beuys berühmten Ausspruch, „Jeder ist ein Künstler“, denkt Florian Hellwig in diesem Sinne weiter. Jeder kann auch Kunst „verstehen“, nicht im akademischen Sinne, sondern als subjektive Erfahrung, Räume erweitern und erfahrbar machen. Hellwig: „Kunst soll Anstifter und Katalysator sein, Intermediär und Assistent. Für den englischen Theatermacher Peter Brook ist ‘Assistenz’ ein Synonym für Teilnahme. Assistieren ist für ihn der Schlüssel. Ohne Publikum, ist keine Vorstellung, also auch keine Kunst, zu machen.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste