Kultur wieder mit großem „K“

La rentrée: Die „Rückkehr“ gilt nun endlich auch für die hohe Kultur. Zuschauer sind wieder in den Musensälen willkommen. So auch in Straßburgs Oper, Philharmonie oder der neuen Spielstätte in der Zitadelle – ein Überblick auf das Kommende

Im Huckepack durch die Klanglandschaft bis zum Polarkreis. Die Schneekönigin in der Rheinoper. Foto: Klara Beck / Opera National du Rhin

(Michael Magercord) – Jetzt wird’s ernst: Am 9. September nimmt im Palais de la Musique des Congrès das Philharmonische Orchester von Straßburg die Saison 21/22 auf, am 15. September folgt die Rheinoper und tagsdrauf beginnt das Festival MUSICA. Und Achtung: All das nun Angekündigte könnte wirklich genauso stattfinden.

Neue Zeiten: Wenn das OPS am Donnerstag und Freitag zum ersten Abonnentenkonzert der neuen Saison aufspielt, wird das auch der erste Auftritt des neuen Chefdirigenten sein. Der Nachfolger von Marko Letonja ist allerdings kein Unbekannter, Aziz Shokhakimov hatte schon 2014 seinen Einstand in Straßburg gegeben, und sicher erinnert sich noch der eine oder andere an sein fulminantes Konzert von Mahlers 5. Symphonie im Februar 2020, gerade noch vor dem ersten Lockdown.

Nun ist der junge Usbeke neuer musikalischer Direktor der Straßburger Philharmoniker. Ihn als Wunderkind zu bezeichnen, wäre sicher nicht übertrieben. Jahrgang 1988, im Alter von dreizehn Jahren der erste Dirigentenjob, mit 18 Chef des usbekischen Nationalorchesters und Operndirigent in Taschkent, und bald darauf der Beginn der internationalen Karriere mit Stationen in Dresden, Mailand und Wien. Das erste Saison-Konzert widmet sich dem „Rausch der Geige“. So jedenfalls die Überschrift über dem Abend mit Werken von Brahms, Borodin und Kodály, sowie dem 2. Violinenkonzert von Prokofiew mit dem Geiger Nemanja Radulović und zum Ausklang zwei Nocturni von Debussy, quasi als Kontrastprogramm zum feurigen Einstieg.

Die Straßburger Rheinoper geht die Saison etwas sanfter an. Als Übertitel der Spielzeit dient die märchenhafte Einstiegszeile „Es war einmal“, und so wird ab dem 15. September auf der märchenhaften Bühne des märchenhaften Hauses das Märchen der „Schneekönigin“ seinen Zauber entfalten dürfen. Doch das soll nicht heißen, es ginge dabei hausbacken zu, denn zuständig für die Musik ist der zeitgenössische Komponist Hans Abrahamsen aus Dänemark. Und seine erste Oper führt uns bis an den nördlichen Polarkreis.

Die Schneekönigin in ihrem Eispalast befehligt dort eine Armee aus Schneeflocken. Kaltherzig wie ein Eisberg entführt sie den kleinen Kai in ihr eisiges Reich. Aber wir Straßburger ahnen es schon: Sich an Kai zu vergreifen, muss sich zwangsläufig als verhängnisvoller Fehler erweisen. Folgerichtig wird die Königin heimgesucht von dessen Freundin Gerda, und klar, die kann alles, was die Königin nicht kann: mit Vögeln und Tieren auf Augenhöhe kommunizieren und überhaupt lieb und pfiffig sein. Ein wohlwollendes Rentier steht ihr zur Seite, und so gelangt sie schließlich ins Reich des Nordlichts. Wenn das nicht nach Zauber klingt? Und so soll laut der Vorankündigung die tellurische Musik und die animierte Lichttechnik die Bühne für dieses Märchen von Hans Christian Andersen in ein eigenes Universum verwandeln.

Aber ist sie das nicht immer? In dieser Saison verzaubern noch Altbekannte wie Verdi, Mozart, Bizet und Leonard Bernstein die Straßburger Bühne, Ravel und Janáček sind ebenfalls unter den Zauberern, und sogar einen bislang fast unbekannter Magier der Musik gilt es zu entdecken: „Die Vögel“ von Walter Braunfels aus den 1920er Jahren läuten das neue Jahr in der Rheinoper ein – und das alles im 200. Jahr des Bestehens ihres wunderbaren Gebäudes. Der Prachtbau hat in seiner ursprünglichen Form trotz zum Teil erheblicher Zerstörungen drei Kriege überstanden, da bleibt nur zu hoffen, er wird auch die stetige Erneuerungssucht unserer seltsam ungnädigen und maßlosen Zeit überleben. Noch ist die Gefahr nicht ganz abgewendet, dass der Opernbetrieb in ein komplett neues Gebäude ausgesiedelt wird. Aber das Lob des Direktors für die Schönheit seines Hauses sollte nicht ins Leere schallen. Also, liebe Stadtoberen: Bitte keinen weiteren Kulturbetonklotz mehr! Wie sollte sich denn darin bloß der ganze Zauber der märchenhaften Opernkunst entfalten?

Es gibt ja durchaus Konzerte und musikalische Vorführungen, die bestens in nüchterne Zweckbauten passen. Das Straßburger Festival MUSICA wird uns vom 16. September bis 10. Oktober reichlich Gelegenheiten bieten, den Echoraum zwischen Ort und Darbietung zu ermessen. Seit 1983 wird auf dem Festival das zeitgenössische Musikschaffen in seiner eklektischen und zunehmend elektronischen Breite vorgestellt. Laut Festival-Selbstauskunft werden sich in der nun anstehenden Ausgabe immer wieder mehr oder weniger weite „Klanglandschaften“ vor uns ausbreiten. Dabei werden richtige Landschaften, wie man wohl Genre-gerecht sagt: evoziert – wie etwa der arktische Norden durch Gesang der Inuit; oder „post-exotische“ Orte aufgesucht, die nur noch durch eine klangliche Erzählung auf einer Landkarte zu positionieren sind.

Das Hauptprogramm der Klangraumvermessungen beginnt mit einem Marathonkonzert von 35 Stunden und 34 Minuten namens „Asterismus“ im rabenschwarzen Plattenbau des Maillon-Theaters, und endet nach vielen Zwischenstationen, wie etwa einer elektro-tektonischen Drift von fünfzig Geigen mit vorgebauten Lautsprechern, schließlich im „Klangtempel Teil 3“ in der neuen Halles Citadelle. Das alles kann sehr spannend, lehrreich und sogar sinnreich sein, hatte doch einmal mehr Jean-Luc Nancy darauf hingewiesen, dass die jeweils zeitgenössische Kunst Auskunft über die Gestalt der Sinnsuche ihrer Epoche gibt. „Der Mensch merkt, dass es durchaus einen Wert hat, sich und seinem Leben ein wenig Sinn zu geben, selbst wenn er spürt, dass es letztlich keinen endgültigen Sinn gibt“, sagte der Philosoph. Also schauen und hören wir, wie sich die –verzweifelte– Sinnsuche in Zeiten, in denen „jedes Kunstwerk von der Frage begleitet wird, ob es überhaupt Kunst sei“, gestaltet.

Wie eine Hommage an den Straßburger Denker, der vor drei Wochen im Alter von 81 Jahren verstorben ist, muss nun die Aufführung am 18., 19. und 20. September gelten, die von dem vom Philosophen verehrten Maler Mark Rothko inspiriert wurde. Dann wird auch die bedächtige, durch ihre immer mitschwingende Nachdenklichkeit so eindringliche Stimme des großen Zeitgeistbeobachters noch einmal zu hören sein.

Und als wolle sie seine These über die Rolle der Kunst beweisen, zeigt die elektronische Kunst, dass sie nichts weiter sein dürfte, als ein flüchtiger Ausdruck ihrer Zeit. Denn auch dieses Genre ist schon ins Alter für eine Rückbesinnung auf die Wurzeln gekommen. Tristan Perich wird am 30. September mit seiner „Drift Multiply“ die minimalistische Klangästhetik wiederbeleben – mithilfe des Einsatzes von LoFi-Technik, die lediglich auf binärer Logik beruht. Gespielt wird sie sozusagen auf historischen Instrumenten, nämlich basierend auf dem Microchip AT-TINY-85 mit gerade einmal 20MHz und 8K Speicherkapazität. Klar, dass sich dabei trotzdem wieder eine Klanglandschaft auftun wird –wie auch schon bei der spirituellen 35-Stunden-„Wallfahrt im digitalen Zeitalter“, wobei aber wohl stundenweise Ausschnitte genügen dürften, um zu erfahren, worum es dabei gehen soll. Denn fast wie das richtige Alltagsleben könnte es so ab und an nach Wiederholungen in der Dauerschleife klingen.

Ob Kunst nicht genau das Gegenteil erreichen sollte, nämlich die Möglichkeit eröffnen, sich wenigstens einmal kurz aus dem üblichen Dasein zu verabschieden? Selbst wenn: Was spannend, lehr- oder gar sinnreich ist, muss nun einmal jeder für sich erkunden. Schön ist es auf jeden Fall, dass es wieder etliche Gelegenheiten zur Erkundung gibt. Man muss sie nur ergreifen, wofür allerdings der Pass-Sanitaire ein Muss ist, also Test-, Impf- oder Genesenennachweis nicht vergessen – gegen die Wirkungen des Kulturvirus wiederum kann man ja gottlob nicht geimpft werden.

Konzert der Straßburger Philharmonie OPS

Alexander Borodin: Danses polovtsiennes
Sergej Prokofiew: Concerto pour violon n°2 en sol mineur
Claude Debussy: Nocturnes (Nuages, Fêtes)
Zoltán Kodály: Danses de Galanta
Johannes Brahms: Ungarische Tänze 1 und 10
Dirigent:  Aziz Shokhakimov
Geige: Nemanja Radulovic

DO 9. und FR 10. September um 20 Uhr im PMC

Infos und Tickets unter: https://philharmonique.strasbourg.eu/agenda

„Schneekönigin“ – Oper von Hans Abrahamsen

Rheinoper Straßburg

MI 15. September 20 Uhr
FR 17. September 20 Uhr
SO 19. September 15 Uhr
DI 21. September 20 Uhr

Mülhausen – La Filature

FR 1. Oktober 20 Uhr
SO 3. Oktober 15 Uhr

Infos und Tickets unter: www.operanationaldurhin.eu

Festival MUSICA

16. September bis 10. Oktober

an unterschiedlichen Spielstätten in Straßburg und Mülhausen

Auftakt am DO 16. September 20.30 Uhr in der Halles Citadelles

Infos und Tickets unter: https://festivalmusica.fr/

HINWEIS:

In den vergangenen eineinhalb Jahren folgte an dieser Stelle immer die Warnung, dass sich all das oben noch freudig Angekündigte schließlich doch nur als schöne Aussicht ohne abschließende Erfüllung erweisen könne. Noch immer lässt sich das Schlimmste leider nicht ausschließen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass nun doch alles wieder so wie verkündet stattfinden wird, ist erheblich gestiegen. Märchen könnten also wieder wahr werden – oder wie es bei Peter Handke „im Himmel über Berlin“ heißt: Es war einmal, also wird es sein…

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