Kulturgut „Deutsches Trauma“

Hermine und Friedrich – aus den Vornamen der Eltern setzt sich der eigene zusammen, wie der Professor für Politiktheorie an der Humboldt Universität Berlin beim „Literaturherbst“ in Göttingen offenbarte. Nomen ist nun Omen: Herfried Münkler beschäftigt sich mit Krieg…

Die Brandschatzung Magdeburgs 1631 / Kupferstecher Daniel Manasser, 1632 / Stadtlexikon Augsburg / PD

(Von Michael Magercord) – Dreißig Jahre dauerte der Krieg, sein Trauma währte eineinhalb Jahrhunderte. Kein Krieg hatte bis dahin die Ländereien, die man die „teutschen“ nannte, derart verheert. Ein Drittel der Bevölkerung wurde durch Gewalt und vor allem Seuchen dahingerafft. War es anfangs noch ein geordneter Krieg der großen, aber geografisch immerhin begrenzten Schlachten, wurden die Auseinandersetzungen in der zweiten Krieghälfte von marodierenden Schergen geführt. Im Spanischen bezeichnete man diesen Dauerkleinkrieg als „Krieglein“, also eine „Guerilla“.

Nach seinem Ende 1648 gingen noch gut hundertfünfzig Jahre ins deutsche Land, bis sich diese Kriegserfahrung zum Trauma auswuchs. Das blieb sie dann für die nächsten hundertfünfzig Jahre. Die Erweckung des „deutsches Traumas“, wie Herfried Münkler es bezeichnet, ist für den Politikwissenschaftler „eine kulturelle Leistung“. Denn es bedurfte erst der Kultur und ihrer Erzeugnisse, um den Schrecken des bereits fernen Krieges nun im kollektiven Gedächtnis der Deutschen zu verankern. Friedrich Schiller machte 1791 mit seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ den Anfang.

Warum wurde dieser Krieg plötzlich wieder in Erinnerung gerufen? Suchte man nach einer Erklärung, warum die Landschaften, in denen dieser Krieg einst getobt hatte, immer noch sehr rückständig erschienen im Vergleich zu anderen Regionen Europas? Das alte Trauma also als Bewältigung einer gegenwärtig empfundenen Minderwertig- und Hilflosigkeit? Oder lag der Auslöser gar in Paris? Durch die Revolution erwachte nicht nur das Bürgertum, sondern mit ihm auch die Idee der Nation. Beinahe scheint es, als hätte man im politisch zerstückelten und dann noch von Napoleon besetzten Deutschland ein alle Stämme einigendes Kollektivtrauma gesucht und im „teutschen Krieg“ gefunden.

Traumabewältigung war seither angesagt. Doch wie, wenn das heimgesuchte Gedächtnis das kollektive ist? Das Konzept des „Kollektives Gedächtnis“ stammt von dem kurzzeitigen Göttinger Studenten und langjährigen Straßburger Professor Maurice Halbwachs. In den 20er Jahren beschrieb der Soziologe damit den Umstand, dass selbst lang zurückliegende Ereignisse die Identität einer kulturellen Entität stiften können – ausgerechnet in Straßburg kam er darauf, dort also, wo die kollektive Identität der Einheimischen von traumatischen Ereignissen seiner wechselvollen Geschichte geprägt worden ist.

Alles lange her? Wie aktuell Historie eben doch immer ist und damit das Konzept vom kollektiven Gedächtnis, lässt sich in Europa derzeit am besten an den osteuropäischen Staaten nachvollziehen: Die Besessenheit von seiner Mission zur Rettung des christlichen Abendlandes speist sich bei einem Viktor Orbán nicht zuletzt aus dem kulturell aufrechterhaltenen Trauma aus der drei Jahrhunderte andauernden direkten Konfrontation Ungarns mit dem Osmanischen Reich.

Könnte man sich eines kollektiven Traumas entledigen, wenn man die Historie einfach Historie sein ließe? Oder muss sich Geschichtsvergessenheit immer rächen? Gilt die Historikermantra, wonach jene Gesellschaften, die ihre Geschichte leugnen oder nicht kennen wollen, sie nur umso länger mit sich herumschleppen. Das Beste wäre natürlich, man lernte aus ihr. Wie das gehen kann, zeigt Herfried Münkler im Umgang mit dem Dreißigjährigen Krieg: Gut ging es noch, als Feldmarschall Moltke, der Stratege des preußischen Sieges 1870/71 über Frankreich, am Ende des 19. Jahrhunderts vor einem erneuten Krieg warnte: das würde ein Dreißigjähriger Krieg werden und dazu aufrief, ihn nicht anzustreben. Doch letztlich schief ging das Lernen aus der Geschichte, als General Schliefen seinen Kriegsplan zur Umgehung der französischen Abwehrstellungen ausarbeitete, um mit einem schnellen Vorstoß über Belgien nach Nordfrankreich die Kriegshandlungen vom deutschen Boden fernzuhalten. Eine aus dem historischen Trauma gespeiste Taktik, die den erneuten Krieg dann eben doch möglich erscheinen ließ. Der wurde dann tatsächlich ein Dreißigjähriger, kurz unterbrochen nur von dem misslungenen Friedensschluss von Versailles, dem auch etliche unbewältigte, kollektive Traumata der Siegernationen zugrunde lagen.

Die deutsche Traumabewältigung fand dann aber nach den Zweiten Weltkrieg statt. Allerdings nur dadurch, dass das große Trauma des historischen Krieges durch ein noch größeres abgelöst wurde. Nun war es der Schrecken des Bombenkriegs, der Flucht und Vertreibung, der sich zum Trauma auswuchs. Und wie in allen kollektiven Traumata finden sich die Traumatisierten darin in der Rolle des Opfers wieder. Das gilt selbst für jene, denen das Erschrecken darüber, kollektiv zum Täter geworden zu sein, ohne selbst tätig gewesen zu sein, zum Trauma wurde.

Kollektive Traumata begründen Opfergemeinschaften. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Zwar mögen sich vor allem in den westlichen Gesellschaften die einstigen nationalen Kollektive in immer kleinere Gruppen ausdifferenzieren, so werden diese neuen, die nationalen und kulturellen Grenzen überschreitenden Hashtag-Kollektive eben oft um ein gemeinsames Opfermotiv gebildet. Die Mitgliedschaften in diesen Kollektiven sind sowohl grenz- wie gruppenübergreifend, und die Schnelligkeit ihrer Bildung und Auflösung scheint tatsächlich etwas Neues zu sein, und sie mögen gar einen Weg aus der kulturell erzeugten Geschichtsfalle aufzeigen.

Der Beweis allerdings, dass das Smartphonezeitalter mit seiner permanenten Twitterisierung aller Ereignisse die Historie alt aussehen lassen wird, ist noch nicht angetreten. Und der, dass dieses Zeitalter dann eines sein wird, das keine Opfer mehr hervorbringt, wohl noch weniger – eher im Gegenteil: soviel Opfergefühl schien in den westlichen Gesellschaften zumindest in jüngerer Zeit noch nie vorzuherrschen, zumal ausgerechnet sich nun die zurückgebliebenen Mehrheiten in den einzelnen Staaten zum Opfer der weltumspannenden Minderheiten stilisiert. Das zeitigt ziemlich abstruse Folgen, verstellt doch gerade dieses allen gemeinsame Opfergefühl oft den geistigen Zugang zu den unterschiedlichen Möglichkeiten zur Lösung der Konflikte unter ihnen.

Der Überwindung der Traumata muss also wohl ebenso wie schon seiner Schaffung eine kulturelle Leistung vorangehen. Doch welche? Indem studierte Historiker und Politikwissenschaftler versuchen aus der Geschichte zu lernen. Herfried Münkler nutzt dazu die Methode des Vergleichs. Zugegeben, das Modellieren und Komponieren von fernen Zusammenhängen ist keine wirklich wissenschaftliche Herangehensweise an Historie, sondern eine beinahe schon künstlerische. Doch immerhin: Wenn Kriegsforscher Münkler frappierende Parallelen zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der heutigen Situation im Nahen Osten erkennt und dazu rät, den Westfälischen Frieden von 1648 zu studieren, eröffnet er damit den Zugang zu einer möglichen Konfliktbewältigung.

Und man kann ebenso erkennen, worin eines der größten Hindernisse für den Frieden liegt: im Abrüsten der Kämpfer und Söldner. Kriegshandwerker könnten sich nichts anderes vorstellen als die Kriegsökonomie. Sie hatten und haben Angst, ein Frieden könne sie nicht ernähren. Und wenn man nun den Begriff „Krieg“ noch ein wenig weiter fasst, dann ließe sich eine weitere Parallele aufmachen: zum modernen Krieg gegen die Natur nämlich, der von der industrialisierten Arbeitsökonomie geführt wird. Ihre Arbeiter können sich auch nichts anderes vorstellen als ihre Art des Tätigseins. Selbst wenn sie dafür Braunkohle abbauen, die keiner mehr braucht, und dazu Wälder gerodet und Orte platt gemacht werden müssen, glauben sie immer noch, man könne Wirtschaft und Erwerbstätigkeit gar nicht anders gestalten. Woher diese Phantasielosigkeit? Die Industrialisierung war ein Schock. Der Bruch mit der gewohnten Lebenswelt, den sie einst auslöste, ist zum Dauerzustand geworden ist. Aus seiner Logik des Wachstums und der Überproduktion entspringt ein Trauma, das nie wirklich bewältigt wurde. Wie sonst ist es zu erklären, dass es einfach nicht gelingen will, die moderne Wirtschaftsweise auf eine umweltverträgliche Friedensökonomie umzustellen?

Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Und Politik ist wiederum die Kunst des Möglichen, aber zum notwendigen Paradigmenwechsel schöpft sie die Möglichkeiten bei Weitem nicht aus. Lernen wird man in diesem Falle wohl ohnehin weniger aus der Geschichte als viel mehr aus den Möglichkeiten, die bisher nicht verwirklicht wurden: Also her mit den Ideen, die noch nicht gedacht worden sind. Am besten noch, bevor sich unser kollektives Schuldgefühl als Umweltsünder zum Trauma auswächst, worin sich die Traumatisierten dann doch wieder nur eine Opferrolle zuweisen: Opfer einer Generation, die eigentlich seit 1972, seit der Studie des Club of Rome über die verheerenden Folgen der industriellen Lebensweise, es hätte wissen können, was sie anrichtet. Und wenn sich eine Opferhaltung erst einmal in das kollektive Gedächtnis eingegraben hat, ist es – das zumindest lässt sich aus dem „deutschen Trauma“ immer noch lernen – meist zu spät, um vernünftig und konstruktiv zu denken und zu handeln. Das zu verhindern, ist zu allererst eine kulturelle Leistung – und die größte wohl, die es je zu vollbringen galt. Packen wir’s an!

Herfried Münkler : Der Dreißigjährige Krieg
Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648
976 Seiten – Rowohlt Berlin ©2017

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