Laizismus gehört diskutiert

Nuit debout oder besetze Ölraffinerien – in Frankreich besteht Diskussionsbedarf zwischen Regierenden und Regierten. Aber wie redet man über Grundsätzliches, wenn sich über Grundsätze nicht streiten lässt und es sowieso an Diskussionskultur mangelt? Die Nation gehört auf die Schulbank!

Schleier an französischen Schulen? Immerhin sollte man darüber diskutieren... Foto: Hijabis4ever / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(Von Michael Magercord) – Der Kopf muss frei bleiben, egal wovon. Selbst eine Pudelmütze ist nicht erlaubt auf dem Schulgelände, denn in der Kopfbedeckung drücken sich religiöse Zugehörigkeiten und Überzeugungen aus. Jeden Morgen an den Schultoren in Frankreich vollzieht sich dasselbe Ritual: Mädchen nehmen ihr Kopftuch ab. Und alle anderen ziehen ihre Mütze, Baseballkäppchen oder mancher Lehrer seinen modischen Hut vor der Republik.

Frankreich ist säkular und in den Schulen werden die republikanischen Werte ausgeübt. Ihr Laizismus ist der Republik heilig, er ist das große Erbe der großen Revolution, eine Grundlage der modernen Demokratie. Ein hehrer Grundsatz, der umso höher gehalten wird, je mehr er im Alltag infrage gestellt wird. Und das wird er. Nein, nicht, dass man ihn aufgeben wolle – um Gottes willen! – aber ihn nur stur zu verteidigen, wo das Land sich von religiös motivierten Selbstmordattentätern bedroht fühlt, scheint auch nicht mehr funktionieren.

Mit der erzwungenen Abnahme der Kopfbedeckung ist eben nicht einfach verschwunden, was sich darin befindet, und der Zweifel bleibt, ob sich mit diesem Akt der Respekt für die Republik tatsächlich ausdrückt, zumal am Nachmittag, wenn’s wieder raus auf die Straße geht, das Kopftuch wieder aufgesetzt wird. Stimmen mehren sich, die meinen, dieser Zwang habe sogar kontraproduktive Folgen. Die Botschaft an die jungen Frauen heiße: Du bist so, wie Du – aus welchen Gründen auch immer – sein willst, nicht erwünscht.

Der revolutionäre Laizismus zielte noch gegen die Monopolreligion Katholizismus und ihre Monopolinstitution Kirche. Heute ist die Gesellschaft aber multireligiös, und die feministische Erklärung, die Mädchen seien zum Kopftuch doch nur gezwungen, erfasst die Motive der postkolonialen, zweiten oder dritten Einwanderergeneration, die in einer auf Äußerlichkeiten zielenden Konsumentengesellschaft groß geworden ist, vermutlich auch nicht mehr. Und welche Motive soll man dann etwa den jüdischen Jungs mit ihrer Kippa oder den Trägern von Markenklamotten unterstellen? Kurz: Die Dinge liegen nicht mehr so einfach und bedürften vor allem des Dialogs. Nicht nur Theologen, wie etwa der evangelische Professor Gérard Siegwalt aus Straßburg, meinen nun, dass der erste Ort, wo ein offener religiöser Dialog vernünftig geführt werden könnte, ausgerechnet die Schule wäre.

Schule als Ort der geregelten Konflikte? Zumindest unter Lehrer und Pädagogen ist Bewegung in die Debatte um die Rolle des Laizismus und der Vermittlung demokratischer Werte gekommen, und zwar im wörtlichen Sinn. Denn was heißt Demokratie anderes als zu debattieren? Aber wie? Françoise Werckmann, grüne Stadträtin in Straßburg und auch sonst ziemlich engagiert, wenn es um Debatten geht, hat als Lehrerin ein Konzept vorgestellt, wonach in der Schule die demokratischen Werte nicht nur ausgeübt, sondern eingeübt werden sollen.

Demokratie ist immer in Gefahr, vor allem wenn es ihr an Demokraten mangelt. Oder anders gesagt: Wer in Zukunft den demokratischen Staat erhalten will, wird dessen Bürger einbinden müssen in Entscheidungen, hin von der repräsentierten über die konsultative zur partizipativen Demokratie. Aber zu einer vernünftigen Diskusionskultur gehören zu allererst debattenfähige Teilnehmer. Bürger und ihre Politiker müssen dazu in die Lage versetzt werden, überhaupt vernünftig miteinder reden zu können. Dann wäre es letztlich auch egal, ob man über Religion, das richtige Essen in der Schulkantine debattiert oder – völlig unreligiös aber mit gleichem heiligen Furor – über ein Arbeitsgesetz.

Wenn es also im richtigen republikanischen Leben noch nicht so recht funktionieren will, besser bei den Jüngsten anfangen. Und zwar nach Plan. Dem, der auf dem Sozialforum von 2008 beschlossen wurde und „regulierte Debatte“ genannt wird. Erste Regel, selbstbewusst sein, damit nicht immer nur die sowieso schon Mutigen das Wort ergreifen. Und zweitens, keinen Quatsch erzählen, sondern stringent beim Thema bleiben. Ein Vorsitzender regelt den Diskurs, und auf jeden Diskutanten wird ein Beobachter angesetzt, um ihn bei Bedarf zur Ordnung ruft. Doch das wichtigste, was ein mündiger Debattierer lernen muss ist Selbstdisziplin und anständiges Benimm in der verbalen Auseinandersetzung.

In der Schule, sagt Françoise Werckmann, machten viele Schüler zunächst die Erfahrung, gar nichts zu sagen zu haben. Schnell merkten sie, dass am Anfang einer Diskussion umfassendes Wissen stehen muss. Dann gönnt man sich dort den Spaß, von den heißesten Rednern genau das Gegenteil vom dem vertreten zu lassen, was man zuvor meinte. Das relativiert sehr wirkungsvoll den eigenen Standpunkt. Und noch was schönes aus der Schule: per Los wird der nächste Redner bestimmt, nicht durchs lautstarke Vordrängeln. Den Schülern gefällt das sehr, und die alten Griechen hatten sogar die Vertreter auf den Staatsämtern per Los bestimmt. Ob das allerdings auch eine Lösung ist außerhalb der gehüteten Welt der Schulpädagogik?

Ach ja, eine vernünftige Debattenkultur wäre keine schlechte Lösung in der Welt da draußen, die man Demokratie nennt und die derzeit besonders in Frankreich einer offenen Zerreißprobe ausgesetzt wird. Eine simple Erkenntnis könnte den Weg ebnen: Demokratie erkennt man daran, dass man nie einer Meinung ist, und es kommt manchmal nur darauf an, wie man sie austauscht – in der – angeblich – laizistischen Schule genauso wie bei – angeblich – fundamentalen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

1 Kommentar zu Laizismus gehört diskutiert

  1. Dieser Text müsste übersetz werden.

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