Langsam wird es abenteuerlich…

Mitten in den Anstieg der Infektionszahlen hinein lockert die Schweiz die sanitären Maßnahmen. Dazu bereitet das Land ein Referendum über die Corona-Politik vor.

Die Eidgenossen glauben, die Pandemie halbwegs besiegt zu haben. Entschieden wird diese Frage von der Vox Populi... Foto: Gerhard Mester / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Das Infektionsgeschehen der Pandemie gibt Anlass zu Sorge. Die Mediziner und Virologen läuten seit Wochen die Alarmglocken, in vielen Ländern sind die Krankenhaus-Kapazitäten ebenso erschöpft wie das behandelnde Personal und als ob das nicht alles schon schlimm genug wäre, lockert die Schweiz ab Montag ihre sanitären Maßnahmen. Noch abstruser: Am 13. Juni findet eine Volksabstimmung über die aktuelle Coro   na-Politik statt, initiiert von einer Initiative, die sämtliche sanitären Maßnahmen abschaffen will. Es sieht so aus, als würden die Eidgenossen nun völlig durchdrehen.

Die Schweiz weist momentan eine Inzidenz von 145,2 auf, was die Bundesregierung veranlasst, nicht etwa die sanitären Maßnahmen zu verschärfen – doch stattdessen werden ab Montag die bestehenden Maßnahmen gelockert. Kinos, Außenterrassen und Fitnessstudios dürfen wieder öffnen und damit entspricht die Regierung dem massiv vorgetragenen Wunsch der Wirtschaft, die Situation zu normalisieren.

Dass in bestimmten Außenbereichen das Infektionsrisiko sehr gering ist, das weiß man inzwischen. Doch was sind die Vorgaben wert, die da lauten, dass auf Terrassen weiterhin Maskenpflicht gilt, die Masken aber logischerweise zum Verzehr von Speisen und Getränken abgenommen werden? Wer wird sich nach einer halben Stunde in der Sonne auf einer Terrasse noch daran erinnern, dass es vielleicht besser wäre, die Maske wieder aufzusetzen?

Vor einem Jahr wurde in praktisch allen Ländern bei einer Inzidenz von 50 das gesamte Leben auf Null gefahren. Heute, bei einer dreimal höheren Inzidenz, weicht man die sanitären Vorschriften wieder auf und suggeriert damit der Bevölkerung, dass eigentlich alles schon so gut wie im Griff ist. Dabei zeigt die Erfahrung aus anderen Ländern und Regionen, was passiert, wenn man bei steigender Inzidenz die Maßnahmen lockert. Im Saarland und auch dem „Modell“ Tübingen sind die Infektionen seit den frühzeitigen Lockerungen sofort wieder in die Höhe geschnellt. Das erwartet nun auch die Nachbarn in der Schweiz.

Daran, dass Regierungen falsche Maßnahmen treffen, haben wir uns in Europa seit einem Jahr gewöhnt. Doch dass die Schweiz am 13. Juni die Bevölkerung über die Corona-Politik abstimmen lässt, schlägt dem Fass den Boden aus. Im Grunde könnte die Schweiz ihre Anstrengungen in der Wissenschaft einstellen; denn wenn Entscheidungen solcher Tragweite per Referendum entschieden werden, dann könnten die Eidgenossen künftig ihre Entscheidungen auch auswürfeln – das wäre ebenso kompetent wie eine rein wissenschaftliche Frage durch die Vox Populi entscheiden zu lassen.

Auch in der Schweiz gibt es „Querdenker“ und andere Verstörte, die immer noch meinen, dass die aktuelle Pandemie von Bill Gates organisiert wurde, dass die Erde eine Scheibe ist und dass man sich am besten vor einem Virus, das inzwischen rund 3 Millionen Menschenleben gekostet hat, durch ein am Halsband getragenes Alukügelchen schützt. Diese Leute werden nun bis zum 13. Juni eine massive Kampagne starten, damit alle sanitären Maßnahmen abgeschafft werden. Ist das der Versuch eines kollektiven Selbstmords? Oder ist dies der Versuch der Schweizer, das Problem der Überbevölkerung in den Griff zu bekommen?

Natürlich ist das Vorgehen der Schweiz mit niemandem abgesprochen. Weder mit den Nachbarn, noch mit den Institutionen der EU (mit denen die Schweiz eng assoziiert ist, auch, wenn sie selbst kein Mitglied ist). Das „Patchwork“ der europäischen Länder, in denen die unglaublichsten Dinge ausprobiert werden (ohne Erfolg), wird nun noch durch eine weitere Dimension erweitert, die Volksabstimmung über eine wissenschaftliche Frage, zu der sich nicht einmal die Wissenschaftler selbst einig sind. Eine Pandemie vom Stammtisch managen zu lassen, das ist ein Vorgehen, dass die „Querdenker“ sicher erfreut, ansonsten aber wohl eher als Schnapsidee einzustufen ist. Das Ärgerliche an dieser Schnapsidee ist allerdings, dass mit einem solchen Vorgehen eigentlich nur eines sichergestellt wird, nämlich dass dieses Virus noch auf Jahre hinaus unser Leben bestimmen wird. Aber in ein paar Jahren werden sich dann die Schweizer wenigstens nostalgisch an den wunderschönen Sommer 2021 erinnern, als sie in absoluter Freiheit auf den Terrassen die Sonne genossen haben. Und mit am Tisch saß ein Gast, dessen Präsenz man versucht hat, per Volksabstimmung zu besiegen – das Coronavirus…

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