Lösen wir gerade den Schengen-Raum auf?

Angesichts der erneuten, vermehrten Ankunft von Flüchtlingen reagieren die EU-Staaten wieder restriktiv. Plötzlich wollen viele wieder feste Grenzkontrollen und schüren die Angst vor den Ankommenden.

Auf solche Schilder kann man wohl bald wieder verzichten... Foto: Kaihsu Tai / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Die Reaktionen auf das vermehrte Ankommen von Flüchtlingen in Italien löst reflexhaft Reaktionen aus, mit denen Europa in die Zeit vor Schengen zurückfällt. Schlimmer noch – diese Reaktionen dienen vor allem den rechtsextremen Neonationalisten überall in Europa, die schon bei der nächsten Europawahl 2024 für antieuropäische Mehrheiten im Europäischen Parlament sorgen könnten.

Frankreich weist an der Grenze zu Italien systematisch Flüchtlinge zurück und rechtfertigt dies mit dem „Schutz vor Terrorismus und Migration“. Dass damit Flüchtende pauschal auf eine Stufe mit Terroristen gestellt werden, dient lediglich den Rechtsextremen im Land, ebenso wie die seltsame Aussage von Bundespräsident Steinmeier, der auch findet, dass nun aber langsam mal gut ist mit den Flüchtlingen.

Dies ist nicht nur gefährlich, sondern auch ignorant gegenüber den Gründen, die zu Migrationswellen aus Afrika führen. Die ehemaligen Kolonialmächte in Afrika tragen eine riesige Verantwortung an diesen Migrationswellen, haben sie doch nach der „Unabhängigkeit“ ihrer ehemaligen Kolonien dafür gesorgt, dass hoch korrupte Regierungen an die Macht kamen, die dafür aber die alten Seilschaften mit ihren Kolonialmächten aufrecht hielten, so dass diese weiterhin die ehemaligen Kolonien nach Belieben ausbeuten konnten. Dass sich nun viele Länder Afrikas im politischen Chaos, in Bürgerkriegen und unsäglicher Armut befinden, während ihre Regierungschefs in Saus und Braus leben, das haben die früheren Kolonialmächte mit zu verantworten.

Und nun sollen also wieder feste Grenzkontrollen eingerichtet werden, um zu verhindern, dass an europäischen Binnengrenzen Flüchtlinge Asylanträge stellen können. Der Fremdenhass wird damit wieder institutionalisiert und dass dies lediglich den Interessen rechtsextremer und xenophober Politiker in die Karten spielt, ist klar.

Wo aber bleibt die europäische Solidarität? Wieso lässt es die EU zu, dass beispielsweise die Visegrad-Staaten keine Flüchtlinge aufnehmen, sondern die EU weiterhin als Subventions-Selbstbedienungsladen mißbrauchen? Wegen der unsäglichen Regel der Einstimmigkeit? Da diese Regel die EU weiterhin im Status der international politischen Bedeutungslosigkeit hält, wäre es vielleicht gar nicht so dumm, diese Regel endlich abzuschaffen.

Der Zustand der EU ist heute ziemlich genau das exakte Gegenteil dessen, was die Präsidentin der Europäischen Kommission salbungsvoll in ihrer letzten Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg erzählte. Dass sie mit ihrer jämmerlichen Kommunikation niemanden in Europa mehr überzeugt, das hat sie wohl noch nicht verstanden, doch die europäischen Bürgerinnen und Bürger haben sehr wohl gesehen, wie sich die EU in den letzten Jahren ins politische Nirwana katapultiert hat. Und alles, was die EU nicht in der Lage ist umzusetzen, wird achselzuckend auf die Regel der Einstimmigkeit geschoben, anstatt dass man sich daran setzt und die europäischen Institutionen reformiert.

Die Regelwerke der EU, ebenso wie diejenigen der meisten Mitgliedsstaaten, stammen aus der Epoche vor der Technologischen Revolution, als die Welt noch eine ganz andere war als heute. Dabei gab es 2016 einen Knackpunkt, zu dem man die EU hätte reformieren können. Am Tag, als das Ergebnis der Brexit-Abstimmung im Vereinten Königreich für einen mittleren politischen Tsunami sorgte, erklärten die europäischen Spitzen unisono, dass nun ein „neues europäisches Projekt“ aufgesetzt werden müsse, um die EU so zu modernisieren, dass sich auch die Briten in ihr wiederfinden könnten. Einziges Problem bei dieser guten Idee – es hat sich niemand hingesetzt und angefangen, an einem solchen „neuen europäischen Projekt“ zu arbeiten. Stattdessen verwaltet sich die EU weiterhin mit ihren über 30.000 hoch bezahlten Beamten in Brüssel zu Tode.

Während viele immer noch von einem funktionierenden Europa träumen, sehen die Realitäten anders aus. Aus dem einstmals „größten Friedensprojekt“, das immerhin mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, ist eine Kriegspartei geworden. Aus dem „Hort der Menschenrechte“ ist eine Organisation geworden, die nicht zögert, Menschen zum Ertrinken im Mittelmeer zu verurteilen. Auch die europäischen Sanktionen gegen Russland sind eine Farce, denn Europa finanziert weiterhin Putins Kriegskasse und auch diejenige von Selenskij. Wichtige Entscheidungen können nicht mehr getroffen werden, Sie wissen schon, wegen der Einstimmigkeit. Und fragen Sie mal 100 Menschen auf der Straße, ob diese den EU-Außenbeauftragte kennen und Sie werden sehen, dass die EU bereits in der politischen Bedeutungslosigkeit angekommen ist.

Und nun will man wieder feste Grenzkontrollen einführen und damit eine der wenigen positiven Errungenschaften der EU, nämlich den Schengen-Raum, faktisch außer Kraft setzen? Was bleibt denn dann noch von der EU? Immerhin, in einem Punkt hatte Ursula von der Leyen in Straßburg Recht – bei der Europawahl 2024 werden die Bürgerinnen und Bürger ihren Institutionen mitteilen können, was sie von ihrer Arbeit halten. Das Ergebnis wird zwar Von der Leyen nicht gefallen, doch könnte diese Wahl der Elektroschock werden, den diese EU offensichtlich dringend braucht. Mit „weiter so!“ wird man die EU nicht mehr retten können.

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