Mit dem Virus leben…
Politik und Wirtschaft haben entschieden – ab sofort heißt es „mit dem Virus leben“. Und akzeptieren, dass Tausende Menschen sterben. Der ethische Umschwung kam plötzlich.

(KL) – So, jetzt reicht es auch langsam, Deutschland will Biergarten, Shoppen und Urlaub. Und mit den Kumpels fürs Grundgesetz demonstrieren gehen. Alles klar – dann beenden wir eben die Corona-Krise, die ja ohnehin allen auf den Keks geht. Und flugs heißt die neue gesellschaftliche Losung: „Mit dem Virus leben, am Ende sterben wir ohnehin alle!“ Kann man so sehen, muss man nicht so sehen.
Bislang gab es so etwas wie einen gesellschaftlichen Konsens, dass Leben so etwas wie ein schützenswertes Gut sei. Das irgendwie über allem stand, doch wie wir heute lernen, steht die Marktwirtschaft noch ein kleines Stückchen drüber. Die Spaßgesellschaft auch. Ist unser gutes Recht, verdammt. Dass zu einem solchen Paradigmenwechsel lediglich Wirtschaft und Politik zu Wort kommen, ist seltsam. Ein breiterer gesellschaftlicher Dialog darüber, ob wir es jetzt OK finden, dann eben mit dem Virus zu leben und zu sterben, wäre wünschenswert gewesen. Seltsam auch, dass man Organisationen wie die Kirchen oder beispielsweise Sozialträger kaum gehört hat – aber wenn VW wieder aus der Kurzarbeit in die Vollzeit umsteigen kann, dann braucht’s keinen gesellschaftlichen Dialog. Die Werte sind eindeutig – erst kommt die Wirtschaft und dann die Moral.
Aber wenn wir schon mit dem Virus leben müssen, das in den ersten vier Monaten des Jahres 2020 bereits rund 7000 Menschen in Deutschland getötet hat, warum müssen wir dann nicht auch, sagen wir mal, mit den Drogentoten leben? Das Phänomen ist im Vergleich zu Covid-19 geradezu vernachlässigbar, die Anzahl Drogentoter hat sich in Deutschland auf ziemlich stabile 1200 bis 1300 pro Jahr eingependelt. Erstens, mit Garantie – auch Junkies sterben am Ende ihres Lebens. Zweitens, warum dann den ganzen kostspieligen Aufwand treiben und Drogendezernate unterhalten, verhaftete Junkies auf Staatskosten durchfüttern, teure Entzugsprogramme finanzieren, hey, leben wir doch auch mit unseren Drogentoten! Wenn Covid-19 so weitergeht, dann werden am Ende des Jahres die Drogentoten gerade mal 5 % der Virenopfer ausmachen. Also vernachlässigbar. Legalisieren, der freien Wahl der Bürger*innen anheim stellen und das so gesparte Geld könnte ja beispielsweise als Subventionen in die Automobil-Industrie fließen. Zwei Fliegen mit einer Klappe, nur nicht zimperlich sein!
Und wenn wir schon bei der Automobilindustrie sind, warum eigentlich nicht auch mit unseren Verkehrstoten leben? Die sind auch nur rund 3000 pro Jahr und auch hier die Garantie – am Ende jedes Autofahrerlebens steht mit Sicherheit der Tod. Auch hier gibt’s tolle Einsparungspotentiale. Kein Mensch bräuchte mehr Blitzeranlagen, teure Verkehrsüberwachung, die Flensburger Datei – freie Fahrt für freie Bürger*innen! Und da wir ja unendlich vernünftig sind, reicht die Selbstkontrolle aus, damit es nicht allzu bunt getrieben wird. Hopp – lasst uns mit unseren Verkehrstoten leben!
Wer aber bestimmt, mit welchen Toten wir leben müssen? Dass die Aufhebung des Lockdowns nicht den Menschen dient, sondern den Interessen der Wirtschaft, ist nachvollziehbar. Doch in der Argumentationskette der schönen, neuen Welt, klingt das so: Die Interessen der Wirtschaft sind das höchste Gut, da sie ja letztlich den Menschen zugute kommen. Ok, nur einer Handvoll Aktionäre, aber immerhin, immerhin, Menschen!
Es gibt nur wenige Todeskategorien, mit denen wir nicht leben müssen, können, wollen. Und das sind die verschiedenen Krebsarten, denn hier sind die Todesraten derart hoch, dass sie den reibungslosen Betrieb der Wirtschaft stören können. Wenn zu viele Menschen an Krebs sterben, dann reduziert das ja die Arbeitskraft und Produktivität. Also, leben wir nicht mit unseren Krebstoten, sondern retten wir die Krebskranken. Der Rest kann ruhig krepieren, wenn er nicht der Wirtschaft dient.
Die schöne, neue Welt hat angefangen, ohne dass wir wenigstens mal drüber gesprochen hätten. Freuen wir uns auf die Zukunft, sie wird großartig werden.
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