Nach den Attentaten: Was ist denn nur aus „Charlie“ geworden?

Zwischen „Lügenpresse“, Kommerz und Gleichgültigkeit geht das Leben in der internationalen Medienlandschaft weiter seinen gewohnten Gang.

Wir sind Charlie... so gut gemeint der Slogan auch ist, wir sind alles andere als "Charlie"... Foto: Eurojournalist(e)

(KL) – Als Anfang Januar die Welt von den Attentaten in Paris erschüttert wurde, ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Ein kurzer Ruck. Nicht nur, dass in Paris und ganz Frankreich 4 Millionen Menschen auf die Straße gingen, um für Werte wie Pressefreiheit, Solidarität und gegenseitigem Respekt zu demonstrieren, auch im restlichen Europa, ja, auf der ganzen Welt fühlten sich die Menschen als „Charlie“. Eine ganze Merchandising-Industrie entstand rund um „Charlie“ und stolz zeigten die Menschen ihre T-Shirts, Aufkleber und anderen Objekte mit dem Schriftzug „Je suis Charlie“ vor. Sogar zum geflügelten Wort wurde „Charlie“ – auf andere Situationen wurde der Slogan „Je suis…“ abgewandelt verwendet.

Ein knappes halbes Jahr später ist „Charlie“ endgültig tot. Der Elan der Solidarität ist verpufft, die damals angegriffene satirische Zeitung „Charlie Hebdo“ verkauft keine Millionenauflage mehr, sondern hat sich auf einer Auflage von ungefähr 100.000 Stück pro Ausgabe eingependelt, verschiedene Zeichner des Blatts haben traumatisiert das Handtuch geworfen und in der Redaktion streitet man sich, was man mit dem unerwarteten Geldsegen anfangen soll, der unter so tragischen Umständen über „Charlie“ hereingebrochen ist.

Wie schnell die Menschen doch vergessen! Was gab es vor sechs Monaten für herzzerreißende Erklärungen von allen Seiten, wie wichtig eine unabhängige Presse doch sei! Doch auch das ist inzwischen vergessen worden und statt unabhängigem und kritischem Journalismus bekommen die Menschen wieder den üblichen Propaganda-Einheitsbrei vorgesetzt. Und geben paradoxerweise ausgerechnet denjenigen rechtsextremen Kräften Recht, die von der „Lügenpresse“ schwadronieren.

Wie immer, na klar, steht die BILD in vorderster Linie und macht sich zum willfährigen Anstachler der Regierung, beispielsweise im Zusammenhang mit der Griechenlandkrise oder dem letzten GDL-Streik. Dass sich solche Medien zum Mittäter derjenigen machen, die gerade dabei sind, unsere Gesellschaften und Europa an die Wand zu fahren, ist egal – Hauptsache, die verkaufte Auflage stimmt.

„Keine Milliarden mehr für gierige Griechen“, titelte die BILD vor kurzer Zeit, womit sie den BILD-Lesern suggerierte, dass die Gelder, die nach Griechenland flossen, tatsächlich bei den Griechen, und nicht bei deutschen und internationalen Banken landeten. Auch der journalistische Populismus während des GDL-Streiks zeigte, dass wir alle eben nicht mehr „Charlie“ sind – denn diese Art von Hetzjournalismus kann nur deswegen vermarktet werden, weil es Käufer für solche Medien gibt. Und zwar reichlich.

Gleichzeitig startet Google eine Aktion in Zusammenarbeit mit den Online-Ausgaben der großen europäischen Tageszeitungen. 150 Millionen Euro investiert der Internetriese in ein Projekt, an dessen Ende nicht etwa der freie Journalismus aufblüht, sondern Geschäftsmodelle entwickelt werden, mit denen man auch im Internet den gleichen Journalismus wie auf Papier betreiben kann.

Auf gesellschaftlicher Ebene ist der gesamte Schwung, der nach „Charlie“ entstand, längst verpufft. Die damals sogar von Politikern mutig geäußerte Vermutung, dass man sich nicht nur mit Repression gegen Terrorismus wehren müsse, sondern auch die Ursachen des Terrorismus bekämpfen sollte, zum Beispiel in den tristen Vorstädten der großen Metropolen, interessiert heute niemanden mehr. Es wurden die Geheimdienste aufgerüstet, bewaffnete Soldaten mit Maschinenpistole gehören inzwischen zum normalen Bild auf französischen Straßen, es wurden Gelder für „Sicherheit“ bewilligt – Europa reagiert so, wie die USA nach den Anschlägen von New York reagiert hatten.

Doch was sagt es über den Zustand unserer Gesellschaften aus, wenn nicht einmal mehr Fanale wie die Attentate von Paris ausreichen, um die Solidarität in der Gesellschaft zu stärken? Die hilflosen Aktivitäten einiger Menschen nach „Charlie“ sind verpufft, wir sind zurück zum „Business as usual“. Und damit haben wir „Charlie“ zum zweiten Mal getötet.

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