Nation ist was für Kranke

Die Nation ist Weltmeister. Mit der Fahne in der Hand lehnt sie sich halbnackt aus dem Autofenster. Am Sonntag zumindest, als Frankreich das Finale der Fußballweltmeisterschaft gewonnen hat. Schon ab Montag war das wieder eine Ordnungswidrigkeit – was ist Nation?

Nation im Überschwang - Weltmeister! Foto: Thomon / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(Michael Magercord) – Vier Mal in meinem Leben als Fußballfreund weilte ich bereits in dem Lande, das gerade Weltmeister wurde. Das heißt, ich hielt mich auf dem Staatsgebiet auf, dessen nationaler Fußballverband die Mannschaft stellte, die das soeben beendete FIFA-Weltturnier gewonnen hatte.

Beim ersten Mal war es ein kleiner Junge, der doch gerade alt genug war, um sich ein paar Gedanken zu machen über das Vorkommnis, das die Nation bewegte. Seiner Zeit fand eine WM ausschließlich im Wohnzimmer statt. In Schwarzweiß flimmerte die Schwalbe von Hölzenbein und der folgende Elfer, der den Sieg einleitete, über den Bildschirm. Der finale Jubel schließlich hallte von den eigenen vier Wänden auf die kleine Fernsehgemeinde zurück. Das war’s Anno Domini 1974. „Wir“ waren Weltmeister, sagten die Menschen nun, und der nicht mehr ganz so kleine Junge versuchte, den Sinn hinter dieser Aussage zu finden. In der direkten Fernsehübertragung vom Endspiel war zu erkennen, dass keiner von denen, die nun „Wir“ sagen, mitgespielt hatten. Es musste also noch etwas geben, was alle diese Sofasitzer zusammenschweißt, wenn der allgemeine Wohnzimmerjubel einen Sinn haben soll. Es muss irgendein tiefes Bedürfnis sein, das sich da Bahn bricht, das aber nur gemeinschaftlich befriedigt werden kann. Diese Weltmeisterwerdung sollte eine erste vage Vorstellung von dem formen, was wohl eine Nation ausmachen könnte.

Sechzehn Jahre später lebte der nun junge Erwachsene in Berlin, West wohlgemerkt. Das größte Public-Viewing, das so noch nicht hieß, befand sich im Tempodrom, einer Veranstaltungsbühne unweit der Kongresshalle. Die Schwalbe von Völler, die zum entscheidenden Elfmeter führte, flatterte auf der Leinwand. Der finale Jubel über den Weltmeistertitel für die Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland verstummte schnell bei der Runde Bier danach. Doch dann passierte etwas Seltsames auf den Straßen Westberlins. Aus dem Osten der Stadt – damals im Sommer 1990 noch die „Hauptstadt der DDR“ – kamen Menschen in ihren kürzlich erworbenen Westautos hinüber und schwenkten Westflaggen. Auch der freundliche Hinweis, dass die Mannschaft der DDR in der Qualifikation zum Weltturnier in Italien bereits im November an Österreich gescheitert war, brachte sie nicht von ihrem Tun ab. Die Fahnenschwinger drängten ja schon seit einigen Monaten in die westberliner Welt, was wenige Monate später seine Folgen zeitigen würde. Man nannte es „nationale Einheit“, was daraus wurde. Bald schon waren alle, Ost und West, vereint in einem Staat – und dem jungen Erwachsenen offenbarte sich erstmals, was Nation tatsächlich bedeuten mag, als Ost-Renten und andere Versorgungsleistungen 1:1 zu Westmark in das Westsystem umgestellt wurden und es deshalb hieß, diese Einheit werde nicht von Steuermitteln finanziert, sondern aus den Sozialkassen bezahlt.

Wiederum acht Jahre später war der Ort des Geschehens ein klitzekleines Bergdorf irgendwo in den wilden Schluchten der Savoyer Alpen. Der nun mehr erwachsene Tourist mit Hang zum Bergsteigen sah die Weltmeister Deschamps, Zidane und Co. auf 1.400 Metern über Null. Doch auf dem Höhepunkt der Stimmung – auf dem Farbbildschirm waren schon die ersten multikulti-black-blanc-beure-Massenjubelszenen aus Paris zu sehen – stellte der Hausherr und Fernsehbesitzer den Apparat ab. Der durch die Widrigkeiten, Zufälle und Risiken des Hochgebirgslebens gestählte Mann sagte: So ist das eben, einer musste ja gewinnen. Gewonnen hatte die Mannschaft aus dem Lande, das den Nationenbegriff vor zweihundertdreißig Jahren revolutioniert hatte, indem es ihn mit Werten und Rechten verband, die alle und jeden eines Staatsgebietes einverleibt und unterwirft. Im Bergdorf hingegen verließ man sich zur Lebenssicherung bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nur auf seine engste Gemeinschaft. Erst mit dem halsbrecherischen Skitourismus kam eine Bereitschaft zum lebensunnötigen Risiko in die Berge. Gleichsam zog damit eine Rettungs- und Lebensabsicherungsindustrie ins Hochtal ein. Die plötzliche Abschaltung des direkten Drahtes nach Paris ließ dem Touristen immerhin die Muße zu erkennen, dass selbst eine Grand Nation immer eine Geschichte hat und keine Selbstverständlichkeit darstellt – ebenso wenig wie ihre Sicherungssysteme.

Und nun, zwanzig weitere Jahre später, ist der langsam aber sicher alternde Mann vor Ort in Straßburg, mittendrin im Geschehen in der selbst erklärten Hauptstadt Europas. Im Herzen der Stadt war die Schwalbe von Griezmann schon lange Geschichte, stattdessen stieg die vom Finalerfolg entfesselte Jugend General Kléber zu Kopfe. Um die Statue des alten elsässischen Helden herum feierte die Weltmeisternation ihre halbwüchsigen Millionäre, als bestünden in multilateralen Zeiten Nationen nur noch für Fußballgroßturniere. Und wie feiert diese Nation? Laut wird’s, wenn die Nation feiert. Denn zur verbalen Kommunikation unter den Feiernden genügen scheinbar einige wenige Grundlaute, die sich am besten in gebührlicher Lautstärke artikulieren. Komplexe inhaltliche Verständigung tut da nicht Not und würde das Feiern nur verkomplizieren. Und gefährlich wird’s, wenn eine Nation feiert: Halsbrecherisch mit Fahne aus dem Auto lehnend, im Mopedkorso durch die johlende Menge brausend, Feuerwerkskörper in der trunkenen Masse zündend. Dem langsam aber sicher alternden Mann fällt es schwer, darin eine Nation zu erkennen, zumal er sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass sie dieses Mal zwar gemeinsam, aber nicht zusammen feierte: Ja, „blanc-black-beurre“ war auf der Straße, blieb aber eher – wie es schien – in Grüppchen jeweils unter sich.

Eine gute Stunde schaute ich dem aufgeregten Getue zu und wurde einfach nicht schlau daraus. War das nun Ausdruck der Nation? Wäre es ein zufriedener, ein glücklicher? Oder musste man sich Sorgen um ihren Zustand machen, wenn eine Nation solche Glücksmomente nötig hat? Hält sie nur der halbnackerte Wahnsinn zusammen? Welchem Prinzip folgt das Prinzip Nation? Nicht Freude, schon gar nicht Muße war es, sondern die Altersmelancholie des Trubels erfasste mich… Aber dann! Erst ganz leise noch, doch immer klarer deutete sich die Offenbarung an: die Sirenen der Rettungswagen der Feuerwehr und des SAMU ertönten! Im Lalülala offenbarte sich endlich der Sinn hinter der vierfachen FIFA-Weltmeisterwerdung: Nation ist, wenn alle leisten, was sie können, wer’s nötig hat, bekommt, was er braucht, besser zwar, man bräuchte es nie, aber meist braucht man es eben doch, zumal, wenn man laute und gefährliche Dinge tut, die man besser nicht täte, aber eben doch tut, weil man es eben doch irgendwie nötig hat, wobei es am Ende es ja sowieso für niemanden ohne gar nicht mehr geht, und erst, wenn das alles nicht mehr funktionierte, würde es wirklich laut und gefährlich. Kurz: Nation ist gesetzliche Krankenkasse!

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