Netzwerk? Machwerk? Kunstwerk!

Seit 1992 ist das „Syndicat Potentiel“ in Straßburg der Ort für moderne Kunst, die sich mit den aktuellen Fragen der Welt beschäftigt. Immer mehr wird darin der Betrachter selbst zum Künstler. Und nun darf er auch noch der hohen Kunst des Tratschens frönen.

Kunst geht neue Wege - so auch in der Galerie "Syndicat potentiel" in Strassburg. Ein Umweg, der sich lohnt... Foto: Syndicat potentiel / MM

(Von Michael Magercord) – Mal wieder so richtig tratschen? Haben Sie nicht einen Klatsch, den Sie endlich unter die Menschheit bringen wollen?

Okay, seit es die sogenannten sozialen Netzwerke gibt, scheint es sowieso kaum mehr was anderes zu geben, als Klatsch und Tratsch, und dazu noch ein paar Gerüchte und Verschwörungsgesülze. Ist doch schon alles in der Welt. Aber eben nur virtuell. Doch endlich gibt es eine Möglichkeit, seine offenen Geheimnisse schriftlich kundzugeben, und das Beste daran, es ist eine Kunst, genauer: ein Kunstwerk. Und die Kunst daran ist, dass noch alles zu Papier gebracht werden muss. Sonst wäre es ja kein Kunstwerk, sondern nur bloßes Netzwerk.

Die Kunst, den Tratschweibern und -onkels ihren Klatsch zu entlocken, ist natürlich Künstlern vorbehalten. Delphine Schmoderer, Bildhauerin, und Jim Petit, Musiker und Komponist, haben sich zum Künstlerduo Compagnie „Artotusi“ zusammen getan und sich auf „hybride Kunst“ spezialisiert. Und dazu soll Klatsch und Tratsch gehören? Kunst ist zumindest ihre Installation, die derzeit in der Straßburger Galerie „Syndicat potentiel“ aufgebaut ist: eine gemütliche Tratschecke mit Liegestuhl und säuselnder Musikeinspielung, der sie den Namen „Potins magnétiques“ gaben.

Magnetischer Tratsch also, der sich wohl so sehr anzieht, dass man daraus echte Kunst machen kann, partizipative wohl bemerkt, bei der die Betrachter zu den wahren Künstlern werden. Jedenfalls wenn diese sich an die Beantwortung der Frage wagt, die in Riesenlettern an der Wand hängen: „Was machen Sie hier?“. Wer sich darauf einlässt, ist verloren, der wird sich weiter befragen lassen und erzählen von seinem Lieblingsklatsch, was er denkt, wenn er an eine Kuh denkt, oder schließlich noch von der zukünftigen Entwicklung der Welt tratschen.

Die echten Künstler nennen es „Wörter sammeln“ und haben die wahren Aussagen von neunundzwanzig auskunftsbereiten Menschen, die bei einer früheren Sammelaktion zusammen gekommen sind, in einem Heft gebündelt. Wie viel geben die Menschen preis? Oder wie die Künstler es ausdrücken: Wie transparent macht man sich, wenn es schließlich schwarz auf weiß gedruckt wird? Mehr als in den anonymen sozialen Netzwerken? Oder weniger, aber dafür auf andere Weise mehr?

Bislang ist jedenfalls so viel klar: wenn man im Elsass von der Zukunft der Welt tratscht, geht es darin ziemlich düster zu, von „No Future“ bis zur „Flucht ins Außerirdische“ ist alles dabei. Immerhin, im europäischen Binnenland verbreitet die Aussicht auf den unvermeidlichen Anstieg des Meeresspiegels auch die Hoffnung, dass die auf der verbleibenden Landmasse noch enger aufeinander hockenden Menschen endlich lernen werden, richtig untereinander zu kooperieren. Oder wenigstens miteinander zu tratschen, also so richtig, das heißt ehrlich und respektvoll, und vor allem über das Wesentliche im Leben.

Auf der anderen Seite des Rheins wird gerade auch viel von der Zukunft geredet, und wer in Kehl im Stau vor der Grenze steht, hat genug Zeit, die kurzen schriftlichen Zeugnisse dieser Überlegungen zu studieren. Jedenfalls noch bis zum 13. März. Solange steht dort auf riesigen Plakaten ein sinnfreier Buchstabensalat wie „Bden-Wrrtmbrg“ oder verkündet ein Mensch mit einem Aktenkoffergesicht und hochgekrempelten Ärmeln „Lust auf Zukunft“ zu haben, womit er neue Straßen meint. Zukunftstratsch? Oder doch eher Klatsch von gestern?

Aber das sind ja auch keine Kunstwerke, sondern Machwerk, Werke von Machern also, oder welchen, die es werden wollen. Echter Klatsch und Tratsch ist eben doch eine Kunst. Wer daran schon jetzt teilnehmen will, kann noch bis zum 27. Februar unter dem Baldachin der Kunstinstallation im „Syndicat Potentiel“ seinen Lieblingsklatsch hinterlassen.

Syndicat Potentiel, 13 rue des Couples
Ausstellung „Les potins magnétiques“ noch bis zum 27. Februar
Weitere Aktionen:
29. Februar – 4. März: Allotopie Strasbourg actions urbaine
5. März: Workshop mit Brunch, 12 Uhr
18. März Vernissage Filaire/Lagny/Zieger, 18 Uhr

Infos und Programm unter:
www.syndicatpotentiel.org

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