Neue Heimat Dorf 4.0
Die Kernfrage der Demokratie liegt im Ausgleich der Interessen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten. Das gilt nicht nur gesellschaftlich, sondern ebenso geografisch. Wie soll das Gefälle zwischen Stadt und Land eingeebnet werden?
(Von Michael Magercord) – Unmittelbar nach der Schlacht sind Sieger müde. Nicht anders erging es Martin Häusling aus Hessen. Der agrarpolitischer Sprecher der grünen Fraktion im EU-Parlament feierte den Wahlerfolg seiner Partei in Kassel. Die Grünen hatten in der Nordhessen-Metropole ein Direktmandat gewonnen. Überhaupt lagen sie in allen Großstädten vorn. Doch so erfreulich auch so manche Wählerdaten aus dem Hinterland sind, so bleibt gerade bei den Grünen der alte Gegensatz zwischen Stadt und Land besonders stark.
Tags drauf stellte Martin Häusling bei einer Veranstaltung seiner Partei im benachbarten Südniedersachen fest: „Die Grünen erscheinen den Bauern immer noch als der natürliche Feind“. Nun ist er selbst zwar Landwirt – und klar: ein Biobauer –, aber die Biobauern sind ja keine Seltenheit mehr, allein weil sich der Bioanbau für viele Betriebe bestens rechnet. An der Trennlinie konventionell-bio spielt sich der Konflikt zwischen Grünen und Landvolk schon lange nicht mehr ab, spätestens seit die großen Handelsketten Aldi und Lidl die größten Bioläden der Republik geworden sind. Der Biobauer ist schon lange nicht mehr zwangsläufig auch politisch grün.
Die wirkliche Front verläuft zwischen Stadt und Land. Und es lässt sich nicht leugnen: vieles, was den Metropolen nutzt, schadet dem Land. Ein Beispiel liefert Hessen: Frankfurt will auf Teufel komm raus Millionenstadt werden, ein Ziel, dass auch grüne Politiker betonen. Einmal wird dafür der Stadtraum immer weiter verdichtet und die letzten Grünflächen zugebaut – ein Trend, der auch in Frankreich verfolgt wird, wie wir in Straßburg ja tagtäglich leidvoll erfahren dürfen –, zum anderen dehnen sich die suburbanen Schlafsiedlungen immer weiter ins Umland aus. So werden etwa in der Wetterau beste Ackerböden zu Bauland, das vorwiegend von weltweit agierenden Investoren verbaut wird.
Es scheint ja schon fast absurd zu sein, denn gleichzeitig steht in den Dörfern Wohnraum leer und verfällt. Ganze Gehöfte sind für symbolische Summen zu haben. Und trotzdem lebt dort nur noch, wer es sich leisten kann. Leisten kann sich das Landleben nur jemand, der seinen Lebensunterhalt dort nicht mehr erwirtschaften muss. Transferleistungsempfänger, also Rentner und Arbeitslose bleiben zurück – und die Landwirte. Auch sie leben zumindest teils von den Direktsubventionen, die ihnen aus Brüssel für jeden Hektar Land als quasi leistungsloses Einkommen aus Steuermitteln überwiesen werden.
Diese Zahlungen mögen ihren ernährungspolitischen Sinn einst gehabt haben, den Verfall der Dörfer halten die Milliarden aus der EU-Schatulle nicht auf, im Gegenteil, sie führen zur weiteren Konzentration von Ländereien in immer weniger Händen, zumal, wenn die Niedrigzinspolitik der EZB viel billiges Geld in diese Hände gibt. Großinvestoren nämlich greifen mittlerweile gerne zu, wenn mal wieder ein Kleinbauer aufgegeben hat. Das hat schließlich politische, ja demokratische Konsequenzen: selbst jene, die zwar vom Staat mehr oder weniger leidlich versorgt werden, fühlen sich trotzdem vernachlässigt und wählen entsprechend populistisch. Und das, obwohl wirkliche Armut eher in den Städten anzutreffen ist.
Was tun? Neben der Neuregelung der Maßstäbe der EU-Fördermaßnahmen weg von der Bodengröße hin zur tatsächlichen Tätigkeit darauf plädiert Martin Häusling für die „In-Wert-Setzung“ von Regionen. Man könnte es auch als eine substantielle Form des lokalen Marketings bezeichnen. Die Stärken und Produkte einer Region werden gezielt beworben und entwickelt. Beispiele gibt es bereits, so im südtiroler Örtchen Mals, das sich per Volksentscheid zur pestizidfreien Zone erklärte und so nun viele Besucher anzieht. Allerdings kann nicht jede Region damit rechnen, Touristenmagnet zu werden Es muss daneben auch weniger spektakuläre Maßnahmen geben, von der digitalen Infrastruktur bis zur gezielten Ansiedlung von Migranten. Vor allem die Obst- und Gemüsebauern spürten, dass ihnen so langsam die Arbeitskräfte ausbleiben, seit es etwa in Rumänien aufwärts geht. Für die Erleichterung der Aufnahme von Arbeit für Flüchtlinge in der Landwirtschaft können sich mittlerweile auch viele Landwirte erwärmen, die beileibe nicht Grün angehaucht sind.
Vielleicht aber ebnet eine weitere Überlegung den Weg zur einer simplen Erkenntnis. Es besteht nämlich durchaus ein Zusammenhang der Leiden in Stadt und Land: Denn die niedrigen Lebensmittelpreise sind die mittelbare Ursache für die hohen Mieten in den Städten. Der Lohnanteil, der durch die geringen Kosten für die Ernährung nun eigentlich für nicht-essentielle Bedürfnisse freistünde, wird in der heutigen finanzpolitischen Situation von dem essentiellen Bedürfnis Wohnen aufgesogen. Die Mieten und Immobilienpreise gestalten sich unabhängig von den tatsächlichen Baukosten, die ja überall ziemlich gleich sind. Einzig die Finanzkraft der jeweiligen Region ist ausschlaggebend für die Unterscheide in den Preisen von Grundstücken und Immobilien. Würden Lebensmittel teurer, könnten vor allem kleinere Landwirte wieder ohne hohe Subventionen wirtschaften und gleichzeitig wäre weniger Geld übrig für Mieten, und damit verliert dieser Markt für Finanzinvestoren an Anziehungskraft.
Man sitzt also im selben Beiboot in Stadt und Land, das sich im Schlepptau des Finanzkapitals befindet. Zugegeben, das war jetzt fast eine marxistische Diktion und deshalb weder der Ton, den die Grünen heutzutage anschlagen würden, noch den Bauern in den Sinn käme. Und auch nicht den aufs Landleben spezialisierten Zukunftsforschern. Die träumen stattdessen schon vom Dorf 4.0: Nicht mehr der Straßenbau ist die Infrastruktur Nummer Eins zur Anbindung an die große Welt, sondern die Datenautobahn. Die Digitalisierung sorgt für die Umkehrung der Austausches zwischen Stadt und Land: sie versetzt Bürojobs aufs Land, autonome und smarte Verkehrsmittel sorgen für die Mobilität, und der Arzt hält rund um die Uhr Sprechstunde in der Online-Praxis. Diese Wiederbelebung des Lokalen durch High-Tech hat auch schon einen Namen: „Glokalisierung“.
Möge sie schnell umsichgreifen, denn wenn alles so weitergeht wie bisher, wird der Gegensatz zwischen Stadt und Land die Demokratie schädigen. In ganz Europa hat sich diese Spaltung verfestigt, Wahlergebnisse in Frankreich, wo auf dem Land überwiegend Le Pen gewählt wurde, oder bei der Brexit-Abstimmung mögen nur die Spitze des Eisberges sein. Denn auch in Deutschland wählt man auf dem Lande zunehmend rechtspopulistisch – solange wohl, bis der Arzt kommt.
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