Nicht verpassen: verpasste Gelegenheiten in der Rheinoper

Die letzte Premiere der Saison führt uns ab Samstag in der Rheinoper Straßburg vor, wie man Lebenschancen verpassen kann – oder lernen, dass die gesellschaftlichen Umstände uns sowieso keine Wahl lassen, beste Gelegenheiten zu verpassen.

Macht Lesen allein schon melancholisch? Tatjana (Ekaterina Morozova), die Leseratte, verpasst vor lauter Büchern ihre Liebe in Tschaikowski tragischen Oper "Eugene Onegin". Foto: Opera national du Rhin / Foto Klara Beck

(Von Michael Magercord) – Tschaikowski verpasste diese Gelegenheit nicht: für seine Oper Eugene Onegin schrieb er das Libretto einmal nicht selbst, sondern verließ sich auf das dramatische Können Alexander Puschkins und des Drehbuchautors Konstantin Schilowski. Es wurde ein zeitloses Werk über verpasste Gelegenheiten, nachvollzogen am Leben der drei Hauptprotagonisten der Oper.

„Sie und ich, wir alle sind Onegin“, sagt Frederic Wake-Walker, der Regisseur der Neuproduktion dieses Opernklassikers, die am Samstag in Straßburg Premiere hat. Wir wissen zwar nicht, was der junge britische Regisseur schon alles verpasst hat, können es uns bei dem in jungen Jahren so erfolgreichen Künstler auch nicht so recht vorstellen. Aber immerhin zeigt er uns, was Tatjana verpasst hat. Und Lenski. Und vor allem der Namensgeber der Oper, Eugene Onegin.

Im ersten Akt wird uns die Tragik der in ihrer Welt der lebensfernen Bücher und Träumereien verlorenen Tatjana gezeigt, die so ihre Liebe verpasst. Im zweiten Akt ist es Lenski, dessen Unglück darin liegt, dass er sich aus gesellschaftlichen Konventionen dazu hinreißen lässt, seinen Freund zum Duell zu fordern – und dabei ums Leben kommt, auch, weil die beiden die Gelegenheit zur Versöhnung verpassen. Und am Ende steht dann Onegin, der seine Liebe zu Tatjana erst erkennt, als sie ihn zurückweisen muss.

Ihn umgibt wohl das größte Geheimnis der Figuren, so recht schlau wird man aus ihm nicht. Es heißt, Tschaikowskis habe sich mit ihm und seinen verpassten Chancen außerordentlich stark identifiziert. Gerade dass Onegin sein wahres Fühlen verbirgt, ist nach dieser Lesart ein Hinweis auf dessen eigene Erfahrung als Homosexueller in einer intoleranten Gesellschaft.

Diese schlägt sich auch in der musikalischen Umsetzung der Tragödie nieder. Alle drei Protagonisten der verpassten Lebenschancen haben ihre eigene Stimmführung bekommen, Tatjana und Lenski drücken sich in großen Arien aus, Onegin bleibt als Bariton in einer mystischen Schwebe, nahe an der Rezitation. Und trotzdem war Tschaikowski alles andere, als ein moderner Komponist, sondern ein melancholischer, der gerade deshalb den Nerv seiner – und unserer – Zeit getroffen hat.

Wir alle sind Onegins in unserem Dasein voller verpasster Gelegenheiten und vermeintlichen Lebenschancen, aus denen doch nichts geworden ist. Wir sind zur Melancholie verdammt in diesen Zeiten, in denen uns vorgegaukelt wird, wir hätten eine andere Wahl gehabt. Aber nein, es gibt keine Wahl, die gesellschaftlichen Zwänge lasten schwerer, damals wie heute. Auch der Autor des Werkes, Alexander Puschkin, starb wie schon zuvor seine Romanfigur in einem Pistolenduell, auf das er sich einließ, weil es die Konvention verlangte. Nicht die Kugel tötete ihn, sondern die Gesellschaft und ihre Normen.

Heute mag man eine verpasste Lebenschance nicht immer gleich mit dem Leben bezahlen, aber öffentlich zur Schau trägt man die schamhafte Last des Verpassthabens in unserer Leistungsgesellschaft besser auch nicht. Wir sind heimliche Onegins: anonyme Melancholiker quasi.

Was also kann diese Oper uns heute noch vermitteln? Kann sie Ansporn sein, den Zwängen doch noch zu entfliehen? Oder uns eher Trost spenden, dass es schon immer so war? Und ja, da haben wir dann doch eine Wahl, denn das zumindest kann in den drei Stunden ihrer Dauer nur jeder für sich herausfinden.

Eugen Onegin
Lyrische Szenen in drei Akten und sieben Bildern von Peter Ilitsch Tchaikowski

Libretto vom Komponisten und Konstantin Schilowski nach Alexander Puschkin
(Neuproduktion)

Regie Frederic Wake-Walker
Musikalische Leitung Marko Letonja
Orchestre Philharmonique de Strasbourg

Strasbourg – Opéra
SA 16. Juni, 20 Uhr
MO 18. Juni, 20 Uhr
MI 20 Juni, 20 Uhr
FR 22. Juni, 20 Uhr
SO 24. Juni, 17 Uhr
DI 26. Juni, 20 Uhr

Mulhouse – La Filature
MI 4. Juli, 20 Uhr
FR 6. Juli, 20 Uhr

Infos und Tickets unter: www.operanationaldurhin.eu

Und noch vorzumerken:
Samstag, 30. Juni, 20 Uhr, Opera Strasbourg

Das letzte Rezital der Saison mit dem Bariton LUDOVIC TEZIER
Klavierbegleitung von Thuy Anh Vuong

Lieder von Schubert und Schumann, Melodien von Ibert, Faure, Berlioz

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