Niemand stirbt leiser als ein Ertrinkender

In ganz Europa haben am Wochenende Zehntausende Menschen dafür demonstriert, dass das Rettungsschiff „Aquarius“ endlich einen Status und eine Flagge erhält.

Ein Bild, das in Brüssel wohl den wenigsten gefällt - das Team der "Aquarius" rettet eine Schiffbrüchige. Foto: www.sosmediterranee.fr

(KL) – In mehr als 50 französischen Städten, aber auch in Madrid, Brüssel, Berlin oder Palerme haben am Wochenende Zehntausende Menschen dafür demonstriert, dass dem Rettungsschiff „Aquarius“ endlich ein Status zuerkannt wird, idealerweise ein europäischer Status. Worauf wartet die EU eigentlich, um diese unerträgliche Situation zu lösen, in der Retter von Schiffbrüchigen kriminalisiert und Sklavenhändler in Libyen von der EU finanziert werden?

Die “Aquarius” liegt im Hafen von Marseille und findet keine Flagge, unter der sie wieder in See stechen könnte. Nach Gibraltar hat nun Panama angekündigt, dem Rettungsschiff, das in mehr als 200 Einsätzen fast 30.000 Menschenleben gerettet hat, die Flagge wieder abzunehmen, wegen „Nichteinhaltung internationaler juristischer Verfahren“. Und die EU sorgt für ein Paradoxon – sie, die Friedensnobelpreisträgerin, die sich an jeder Stelle damit brüstet, der „Hort der Menschenrechte“ zu sein, kriminalisiert Menschen, die Leben retten und verurteilt damit Tausende Flüchtlinge faktisch zum Tod durch Ertrinken im Mittelmeer. Wie praktisch, Ertrinkende sterben leise und ohne, dass es von ihrem Tod furchtbare Bilder gibt. Doch nur, weil die Junckers, Mogherinis und die europäische Spitzenpolitik diese Menschen geräuschlos in den Tod schicken, bedeutet dies noch lange nicht, dass es niemand mitbekommt. An der Frage der „Aquarius“ könnte sich der künftige Weg der EU entscheiden – hin zu einer Organisation, die tatsächlich „Werte“ darstellt oder die EU macht auf ihrem Weg zum reinen Erfüllungsgehilfen des Großen Kapitals weiter.

„Rettet die Rettung Schiffbrüchiger“ – Die Forderung des Vereins SOS Méditerranée, der die Demonstrationen organisiert hatte, ist einfach: „eine Flagge für die Aquarius“. Auf den Spruchbändern auf den Demonstrationen konnte man Dinge lesen, die eigentlich so selbstverständlich sein sollten, dass es schon dramatisch ist, dass die politischen Entscheidungsträger überhaupt daran erinnert werden müssen: „Rettet die Rettung Schiffbrüchiger“ oder „Schluss mit der kriminellen Untätigkeit der europäischen Regierungen“, konnte man dort lesen. Diese Mobilisierung ist richtig und wichtig – denn die große Flüchtlingswelle ist längst wieder abgeebbt und die Anzahl ankommender Flüchtlinge befindet sich wieder auf dem Niveau von vor 2015. Insofern sind die Versuche, Flüchtlinge vom Erreichen Europas abzuhalten, indem man ihre Schlächter unterstützt und sie zum Tode verurteilt, völlig sinnloses Herumgehampel von kleinkarierten Politikern, die meinen, damit neonationalistischen Parteien ihre Wählerschaft abjagen zu können.

Rund 10.000 Menschen demonstrierten in Marseille, wo es bereits im Vorfeld zu Spannungen kam, als am Vortag der Demonstration eine Gruppe Rechtsextremer die Büros des Vereins „SOS Méditerranée“ stürmte und dort ein Spruchband ausrollte, auf dem sie der NGO vorwarfen, „Komplize des Menschenhandels“. Falls es noch eines Beweises bedurft hätte, dass rechtsextreme Neonationalisten nicht so richtig die Hellsten sind, voilà.

Doch auch in anderen Städten gingen die Menschen auf die Straße, um gegen die zynische und menschenverachtende Politik der EU zu demonstrieren: 2.000 in Montpellier, rund 600 in Rennes, 250 in Bordeaux und Lille, rund 300 in Biarritz, 150 in Lyon und Calais, wo die Demonstranten ein Demonstrationsverbot der Stadt ignorierten. So weit sind wir gekommen – Menschen, die gegen eine mörderische Politik demonstrieren, werden aus den Städten verbannt – die Wahrheit hört wohl keiner dieser Schreibtischtäter gerne.

Einer von 18 ertrinkt – Dabei sind die Zahlen auch denjenigen bekannt, die Flüchtlinge zum Tode verurteilen. Wie eine Sprecherin von „SOS Méditerranée“ erklärte, ist zwar die Anzahl der Flüchtenden deutlich zurückgegangen, dafür ist die Sterblichkeit auf hoher See dramatisch angestiegen. „Im Jahr 2017 ertrank einer von 42 Flüchtlingen beim Versuch, nach Europa zu gelangen; in diesem Jahr, im Zeitraum Juni bis September, ertrank einer von 18 Flüchtlingen“. Da können die Verantwortlichen aber stolz sein, sie sind gerade dabei, ihren „Krieg gegen die Flüchtlinge“ zu gewinnen.

Immerhin sind sich inzwischen alle, bis auf die vier Visegrad-Staaten, die eigentlich in der EU nichts zu suchen haben, darüber einig, dass nur die EU die Frage der Migration lösen kann. Prima – und worauf wartet dann das Europäische Parlament? Wird die Europäische Kommission, die Brüsseler Hochburg der institutionalisierten Korruption, einen Gesetzestext im Eilverfahren einreichen, der vorsieht, dass die „Aquarius“ und andere Rettungsschiffe unter europäischer Flagge fahren und wieder Menschenleben retten können?

Schreibtischtäter abwählen? – Und offenbar hat die europäische Politik eines vergessen: Im Mai 2019 wählen die Europäerinnen und Europäer ein neues Europäisches Parlament. Meinen die Damen und Herren wirklich, dass die Menschen so blöde sind, dass sie Kandidaten und Kandidatinnen wählen, die Hilfsbedürftigen den Todesstoß versetzen? Wer immer für diejenigen stimmen wird, die das Massengrab Mittelmeer zu verantworten haben, muss sich darüber klar sein, dass er sich damit zum Mittäter macht. Wenn wir alle wirklich wollen, dass Europa einen anderen Weg einschlägt, gibt es dafür nur einen Weg – anders wählen. Und zwar nicht diejenigen, die es gar nicht abwarten können, Europa abzuschaffen, sondern diejenigen, die noch nicht vollständig die „europäischen Werte“ vergessen haben. Und sorry, andere Menschen zum Tod durch Ertrinken zu verurteilen, gehört nun mal eben nicht zu diesen „europäischen Werten“. Es liegt an uns, dies auf den Stimmzetteln im Mai 2019 zum Ausdruck zu bringen.

Sie finden weitere Informationen über die Arbeit von „SOS Méditerranée“ und die „Aquarius“ unter DIESEM LINK, wo Sie auch die Möglichkeit haben, eine Petition zu unterschreiben und für die Aquarius zu spenden – immerhin kostet ein Tag auf See 11.000 € und eines ist klar – die „Aquarius“ wird wieder in See stechen!

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