Nur von „Zeitenwende“ zu reden, das reicht nicht…

Erneut steht das Gesundheitssystem massiv unter Druck. Doch dabei spielt Covid-19 nur eine untergeordnete Rolle – die Probleme sind systeminhärent. Doch so richtig will niemand an Reformen heran.

Die Zeitenwende findet leider "nur" als Umweltprojekt im Kottenforst bei Bonn statt. Foto: ToLo46 / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Momentan sind, laut Robert-Koch-Institut, rund 10 % der Bundesbevölkerung krank. Grippe, Covid, verschiedene Atemwegs-Erkrankungen – die Republik ächzt unter diesen Wellen. Natürlich hat dieser extrem hohe Krankenstand Auswirkungen auf viele Bereiche. So ist natürlich die Produktionskraft des Landes um 10 % gesunken, die Kosten für die medizinische Versorgung steigen immer weiter an und einige Medikamente werden knapp. Das liegt allerdings nicht am hohen Krankenstand, sondern an der (zum Glück) existierenden Preisdeckelung für Medikamente, aufgrund derer allgemeine Kostensteigerungen, wie beispielsweise für Energie, nicht einfach an die Patienten weitergegeben werden können. Weniger erfreulich ist, dass momentan 18 % der Patienten auf die von ihnen benötigten Medikamente warten müssen.

Die aktuelle Entwicklung zwingt zu grundlegenden Überlegungen. So muss die Frage geklärt werden, ob wir den Weg der Drei-Klassen-Gesundheitsversorgung weitergehen wollen oder nicht. Ist Gesundheit ein Grundrecht oder eine Luxus-Dienstleistung, die sich nur wenige Begüterte leisten können? Ein Grundrecht, mögen jetzt die meisten denken, doch das stimmt bereits heute nur noch sehr eingeschränkt. Das merkt man spätestens dann, wenn man als Kassenpatient einen Termin bei einem Spezialisten braucht.

Doch das, was Olaf Scholz unter „Zeitenwende“ versteht, ist sicherlich nicht das, was die Menschen darunter verstehen. Diese merken nämlich in ihrer Mehrheit, dass sich die Lebensbedingungen deutlich verschärfen und, schlimmer noch, dass die Regierungen (denn das betrifft nicht nur Deutschland) keinen Schimmer haben, wie diese vielen Krisen zu bewältigen sind. Man beschränkt sich auf das Reagieren und als Bürger hat man nicht das Gefühl, dass es eine nationale oder europäische Krisen-Strategie gibt.

Was wir brauchen, ist keine „Zeitenwende“, sondern ein grundlegender Systemwechsel. Allerdings wäre es das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass ein Systemwechsel aufgrund vernünftiger Überlegungen organisiert würde, denn bisher sind Systemwechsel immer nur die Konsequenz mehr oder weniger gewalttätiger Umstürze gewesen. Insofern ist auch das Gerede von einer „Zeitenwende“ nur Geschwätz, denn niemand, weder in Deutschland, noch in Europa, arbeitet tatsächlich an grundlegenden Reformen. Alle klammern sich an einem nicht mehr funktionierenden System fest, das von Woche zu Woche korrupter und perverser wird.

Die Beispiele für das systemische Versagen sind zahlreich. - Die Pandemie hat nicht dazu geführt, dass Europa als Einheit handelt; der Krieg in der Ukraine hat nicht dazu geführt, dass Europa eine gemeinsame Strategie entwickelt; der Zusammenbruch der Gesundheitssysteme wird überall nur beobachtet, nicht aber bekämpft; die sozialen Spannungen und die schleichende Prekarisierung der Mittelschicht wird als Phänomen einfach hingenommen. Wo ist denn da, bitteschön, die beschworene Zeitenwende? Was man in der Praxis sieht, ist ein hilfloses „Business as usual“, gekoppelt mit viel politischer Kommunikation, denn wenn die Politiker die aktuellen Probleme schon nicht lösen können, dann wollen sie doch wenigstens wiedergewählt werden und weiterhin ihre üppigen Diäten beziehen.

Also ist auch die „Zeitenwende“ ein leerer Begriff, sie findet nicht statt. Was allerdings stattfindet, ist eine deutliche Verschlechterung der Lebensbedingungen der Menschen, die sich in den kommenden Monaten und Jahren noch massiv verschärfen wird. Es sei denn, man glaubt der Propaganda der Kriegsparteien in der Ukraine, dass dieser Krieg schon bald vorbei sei. Das wurde uns 1914 und 1939 auch schon erzählt.

Die heutigen Systeme in Ost und West stammen allesamt aus der Zeit vor der Technologischen Revolution und integrieren folglich auch nicht die Möglichkeiten, die eine digitalisierte Welt auch im Bereich der Demokratie bietet. Doch der Versuch, die Lebensrealitäten in das enge Korsett längst überholter Systeme zu pressen, kann gar nicht funktionieren. Umgekehrt wird ein Stiefel daraus, wenn man nämlich die Systeme an die Lebensrealitäten anpasst. Doch das wiederum tut keiner.

Worauf warten die Verantwortlichen? - Dass die heutigen Systeme wirklich zusammenbrechen? Dass Menschen sterben, weil sie nicht mehr in überlasteten Krankenhäusern versorgt werden können? Dass Menschen bei uns verhungern, weil die Lebensmittel so teuer werden, dass normales Essen zum Luxus wird? Dass der Krieg, den wir so munter für beide Seiten finanzieren, sich bis zu uns ausdehnt? Dass eine der Atomanlagen in der Ukraine explodiert? Das wäre nicht das erste Mal…

Das (schlechte) Verwalten der zahlreichen Krisen reicht nicht mehr aus, sondern kann im besten Fall den Absturz in Staatskrisen etwas hinauszögern, diese aber keinesfalls verhindern. Doch reicht es auch nicht, mit dem Finger auf die Kaste der Entscheidungsträger zu zeigen. Denn wir sind es, die immer wieder für die gleichen Politiker stimmen, die den eindeutigen Nachweis erbracht haben, dass sie unfähig sind, unsere Länder und unseren Kontinent in die Zukunft zu führen. Daher sollten wir mit der Kritik bei uns selber anfangen – und wir sollten aufhören für diejenigen zu stimmen, von denen wir wissen, dass sie uns nur noch tiefer hineinreiten. Die „Zeitenwende“ wird nicht „von oben“ kommen, sondern entweder von uns Bürgerinnen und Bürgern initiiert werden, oder aber – sie findet nicht statt.

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