Original ist originell – und Oper die konkrete Vergangenheit

Georg Friedrich Händel fast wie am Originalschauplatz - diese erste Aufführung seiner Oper „Ariodante“ ab Mittwoch in Straßburg erfolgt in Kooperation mit dem Königlichen Theater im Londoner Covent Garden, an dem vor fast dreihundert Jahren die Uraufführung stattgefunden hatte.

Ach, wie könnte alles so friedlich sein, wenn böse Neider nicht zu fiesen Tricks griffen, um Missgunst und Gewalt zu verbreiten. So war es im mittelalterlichen Rolandslied, so ist es in der darauf basierenden barocken Oper Händels, und heutzutage leuchtet es uns wieder umso mehr ein, dass sich daran auch bis auf weiteres nichts mehr ändern wird. Foto: Illustration von Sarah Martinon, OnR

(Michael Magercord) – Lasst uns originell und einmalig sein, also ab in die vergangene Zukunft der zukünftigen Vergangenheit! Was sich nach einem ziemlich verstiegenen Abklatsch eines Stephan Spielberg-Filmklassikers lesen mag, ist die Gegenwart – zumindest während jener Stunden, die man in der Oper verbringt. Oder einfacher ausgedrückt: Die Oper bietet uns eine Auszeit aus der Zeitgenossenschaft. Zumal, wenn es sich um ein Werk aus Zeiten handelt, die man für längst vergangen hält.

Eine dieser längst untergegangen geglaubten Epochen ist das Barock. Es war die Ära des Umbruchs hinein jene Zeit, in der wir uns noch heute wähnen: in die Moderne nämlich. Man mochte damals sicher schon erahnen, was da noch so alles auf die Menschen zukommen mag, wenn die alten Gewissheiten aus der Religion und den gesellschaftlichen Hierarchien erst einmal infrage gestellt sein würden, und somit eine Zeit anbrechen wird, die sich selbst für rational hält: Hinfort mit den archaischen Vorstellungen von Beziehungen mit den Göttern, Mächten und zwischen den Geschlechtern!

Wir moderne Menschen würden jedenfalls nur allzu gerne glauben, dass alles so gekommen ist. Doch ach, ausgerechnet heute in den Zeiten von Krieg und gesellschaftlicher Tiefenspaltung dämmert es uns, dass vielleicht doch so gar nichts wirklich anders geworden ist seither. Und eine bessere Schule als eine gute alte Oper, an der man sich diesen Umstand vor Augen und Ohren führen lassen kann, gibt es kaum. Dort wiederum findet sich kein besserer Lehrmeister als Georg Friedrich Händel, denn seine Opern sind bereits Produkte des uns nur allzu bekannten Merkantilismus, der zu seiner Zeit unerbittlich und unwiderruflich in das Showgeschäft eingezogen war.

Die Oper „Ariodante“ aus dem Jahr 1735 ist die zweite Oper, deren Storyline sich aus der spätmittelalterlichen Bestsellerserie „Der rasende Roland“ speist. Dem weltberühmten Kastraten Carestini war bei der Uraufführung in London die Hauptrolle zugedacht, um dem werten und vor allem zahlenden Publikum beste Unterhaltung zu bieten. Groß aufgefahren werden musste, um die in der britischen Hautstadt reichlich vorhandene Bühnenkonkurrenz auszustechen. Das ging nicht ohne Risiko, weder künstlerisch noch wirtschaftlich. Die Komponisten kauften Anteile am Theaterbetrieb, machten ihren Reibach oder aber, wie eben auch dieser Herr Händel, so manches Mal herbe Verluste. Wie machte er sie wett? Mit noch mehr Business!

Orlando“, sprich Roland, hieß die Oper, die Händel fast in den Bankrott geführt hatte. Nach dem Reinfall zog sich der Komponist und Unterhaltungsunternehmer zur Kur ins beschauliche Tunbridge Wells zurück, wo er ein neues Stück verfasste: „Ariodante“. Er ließ sich mit zehn Monaten Arbeit am Werk ungewöhnlich viel Zeit, und siehe, da kam ihm der rettende Einfall: ausgiebige Tanzszenen führte er in das Libretto ein. Dazu ersann er sich Musik, die dem Swinging London einfach gefallen musste. Und siehe, der Erfolg der „Ariodante“ gab sowohl dem genialen und wie dem geschäftssinnigen Tonkünstler gleichermaßen Recht.

Die Geschichte wiederum ist eine zutiefst menschliche, in der die Leidenschaft regiert, aber auch die Psychologie schon waltet. All die Händel, die sich Herr Händel für die Bühne zurecht gelegt hat, lavieren zwischen den Polen Liebe, Eifersucht und Ehre, und ziehen ihr Drama aus den Verzwicktheiten der Gelüste, des Neides und des Verschweigens derselben. Alles ist dabei, bis hin zu tödlichen Duellen zwischen Buhlern und Verknallten, die ihre Liebschaft im Fechtkampf vertreten und den Ausgang als Gottesurteil begreifen.

Dem Publikum wird zwar so manche Volte zugemutet, aber nachvollziehbar sind die Intrigen einem durchschnittlich sensitiven Menschen bis in die heutige Zeit, schon allein, weil der Komponist keine komplizierte Story erzählt, sondern vielmehr die großen Emotionen bedient. Alles war damals und ist heute klar und verständlich, nicht zuletzt durch die Wahl der Musik: in g-Moll wird uns so richtig der Schmerz der Liebenden ins Ohr gesäuselt. Und in dieser Tonart mag uns modernen Menschen gar die Idee des Gottesurteils nahe gebracht werden, verstehen wir doch so langsam wieder, wie begrenzt unser Einfluss auf den Lauf der Welt wirklich ist.

Die Oper eröffnet uns durch ihre strenge Vorgabe der Originaltreue an den Lebenserkenntnissen vergangener Epochen emotional teilzuhaben. Die Musik gibt den unsprengbaren Rahmen vor, innerhalb dessen zwar so manches Bühnengeschehen nach unserer Fasson interpretiert, veranstaltet und verunstaltet werden darf, doch bleibt immer ein Rest an originaler Originalität bestehen – und damit die Chance, als Gegenwart etwas zu erleben, was schon als vergangen galt.

Also auf geht’s zurück in den Barock, um zu begreifen, dass auch unsere Zeit ihm ähnelt, und zwar gerade weil auch wir ahnen, dass nun uns ebenso gewaltige Umwälzungen bevorstehen. Das Bekannte löst sich auf im Virtuellen, welches zunehmend die Welt gestaltet, ohne aber schon Gestalt angenommen zu haben – wenn da mal nicht das Gemüt, wie schon im Barock, zwischen dem genusssüchtigen Carpe Diem und dem Endzeit gestimmten Momento Mori hin und her schwanken darf.

Doch bevor dann die Künstliche Intelligenz endgültig die Rolle des Komponisten und ChatGPT jene des Librettisten übernommen haben wird, bietet uns die Oper noch die Gelegenheit, der Zukunft in ihrer vergangenen Form einen Besuch abzustatten. Ein Abenteuer wird dieser Ausflug allemal, ist doch die Oper jener Ort, an dem uns die einstigen Visionen gegenwärtig werden. Georg Friedrich Händels „Ariodante“ macht uns die Zukunft der Vergangenheit zur Gegenwart – zumindest für drei wundervolle Stunden.

Diese Chance gilt es in Straßburg umgehend zu ergreifen, solange nämlich mit dem wundervollen Saal der Rheinoper noch das passende Ambiente für diese Zeitreise bereitsteht. Denn wer weiß, ob bei der in zwei Jahren anstehenden Renovierung des Gebäudes nicht doch noch einmal eine längst überholte Vision aus einer längst vergangenen Moderne ihr zerstörerisches Zepter schwingen wird.

Ariodante
Musikalisches Drama in drei Akten von Georg Friedrich Händel aus dem Jahr 1735
Neuproduktion der OnR in Kooperation mit dem Royal Opera House Covent Garden

Dirigent: Christopher Moulds
Regie: Jetske Mijnssen
Musik: Symphonieorchester Mülhausen OSM und Opernchor Straßburg

Opéra Straßburg

MI 6. November, 19 Uhr
FR 8. November, 19 Uhr
SO 10. November, 15 Uhr
MI 13. November, 19 Uhr

La Sinne – Mulhouse

FR 22. November, 19 Uhr
So 24. November, 15 Uhr

Théâtre Municipal – Colmar

SO 1. Dezember, 15 Uhr

ACHTUNG: Los geht’s unter der Woche schon um 19 Uhr und nicht wie gewohnt um 20 Uhr.

Weitere Veranstaltungen in der Rheinoper Straßburg:

Deutsch-französisches Vertigo“

Rezital mit Stephane Degout, Bariton
mit Liedern von Fauré, Debussy, Brahms, Schumann

DO 7. November, 20 Uhr

Die drei Räuber“ – Comic-Oper (ab 6 Jahren)

Die Kinderoper mit Anleihen an Tomi Ungerer tourt bis Ende Januar 2025 durchs Elsass.
Tourneestart erfolgt in Colmar am 13. November

Tickets und Information gibt’s hier!

Weitere „ernste“ Kultur in Straßburg:

Konzert der Straßburger Philharmonie OPS

Gershwin, Weill und Bernstein unter der Leitung von Wayne Marshall

PMC, FR 8. November, 20 Uhr

Infos und Tickets gibt’s hier! 

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