Pascal spürt Druckreiz an der Millibar

Mit einem vertiefenden Experten-Interview geht die Kolumne einer entscheidenden WM-Frage auf den Grund.

Unter Druck von allen Seiten: Das Spielgerät der WM 2014. Foto: Bicker

von Arne Bicker

Hier kommt das Paradoxon des Tages: Lesen Sie nicht diesen Text! Der Verfasser hat einfach keine Ahnung vom WM-Fußball. Meine Vorhersage, dass sich Spanien und die Niederlande torlos trennen würden, ist dann doch nicht ganz exakt so eingetroffen. Deshalb soll heute ein externer Experte befragt werden, dessen Urteil unanfechtbar ist, um diese Kolumne kurzfristig zu rehabilitieren. Schließlich startet um 18 Uhr unserer Zeit die deutsche Nationalmannschaft ins Rennen, gegen Portugal. Auf dem Team von Jogi Löw lastet dabei ein ungeheurer Druck. Grund genug, mit diesem mal ein Wörtchen zu reden.

Herr Druck, warum machen Sie es unserer Mannschaft so schwer?

Jetzt machen Sie mal halblang, das ist ja wohl eine überhebliche Einbildung ohnegleichen, dass ich nur auf den Deutschen laste! Was ist mit Gastgeber Brasilien, die ja quasi schon als Titelträger vorverurteilt sind? Oder den Spaniern, nach deren 1:5-Desaster gegen die Niederlande? Die wurden vom „holländischen Laster im Schlamm abgeladen“, habe ich gelesen, und müssen sich am Mittwoch gegen Chile am eigenen Zopf wieder rausziehen – da steht eine ganze Nation am Abgrund. Oder Kolumbien? Da kannst du erschossen werden, wenn dir ein Eigentor unterläuft!

Ok, danke, ich hab’s kapiert. Dann klären Sie mich doch bitte speziell für unser Team auf: Wie groß ist der Druck auf die deutsche Mannschaft?

Nun, auf jedem deutschen Nationalspieler lastet in Brasilien auf Meereshöhe ein Luftsäulendruck von 101 Hektopascal, wobei ein Hektopascal gleich ein Millibar ist.

Millibar?

Ach, Sie kennen diese Einheiten nicht?

Ich kenne nur die deutsche Einheit…und atü.

Atü? Ist seit 1978 abgeschafft. Die „Technische Atmosphäre über Bezugsniveau“ war früher auf Reifenfüllgeräten an Tankstellen ausgewiesen. Atü war der Überdruck im Vergleich zum Umgebungsdruck von etwa einem bar. Der deutsche Fußballbund schreibt auch heute noch einen Balldruck von „0,6 – 1,1 Atmosphären“ vor, das sind also 1,6 – 2,1 bar.

Aha.

Und wenn die deutsche Mannschaft heute Abend in den Complexo Esportivo Cultural Professor Octávio Mangabeira zu Salvador de Bahia fährt, dann haben die Reifen des Mannschaftsbusses einen Druck von etwa 8 bar, beziehungsweise international 116 Psi, das heißt Pound-force per square inch.

Das heißt also, die Deutschen haben Druck von allen Seiten, von unten und von oben?

Nein, den Reifendruck spüren die Businsassen gar nicht. Und den Umgebungsdruck auch nicht, denn der Mensch hat dafür gar kein Sinnesorgan. Da gibt es nur die Eustachische Röhre oder Ohrtrompete, die nach dem 1574 in Umbrien verstorbenen, italienischen Arzt Bartolomeo Eustachi benannt wurde, obwohl die alten Griechen…aber lassen wir das. Diese Verbindung zwischen Mittelohr und Nasenrachen jedenfalls macht sich höchstens beim Tauchen bemerkbar, oder wenn Sie zum Beispiel in einem Flugzeug sitzen oder durch einen Tunnel rasen.

Also, wenn sich der Druck ändert?

Ja, genau. Früher wurden Druckänderungen auf Barometern übrigens in Torr gemessen, wobei ein Torr einem Millimeter Quecksilbersäule entspricht oder 1,33 Hektopascal.

Das ist mir alles viel zu technisch. Wenn ich mir das so überlege, geht es hier doch eher um Metaphysik, also den Druck im übertragenen Sinne…

Ach so, Sie sprechen die Beziehungen zwischen Schein und Schwein und Sein an? Glauben Sie mir mal eins, alle Profi-Fußballer bei der WM haben psychische Mechanismen, um damit umzugehen. Würden Sie als durchschnittlicher Mensch auf einmal in eine brasilianische Arena gestellt mit 80.000 Zuschauern vor Ort, hunderten von Millionen weltweit an den TV-Geräten und 80 Millionen Landsleuten, die nicht weniger als den Titel erwarten, dann könnten Sie noch nicht mal eine halbe Kartoffel schälen ohne hyperventilierend zusammenzubrechen. Und das wird dann aus 28 Perspektiven in Superzeitlupe wiederholt.

Äh, ich weiß nicht. Aber da gibt es doch auch Unterschiede, so von Profi zu Profi?

Natürlich. Wie fanden Sie zum Beispiel die Leistung von Messi bei der letzten EM 2012?

Ich glaube, der hat da gar nicht mitgespielt…

…Eben. Da fehlt ihm das Selbstbewusstsein, der Glaube an die gottgegebene Omnipräsenz. Hatte etwas Cristiano Ronaldo dieses Problem?

Nein, der…

…hat gespielt, und noch nicht mal gut, und das war ihm egal. Diesem Spieler zum Beispiel ist es schlicht ein unhintertreibliches Bedürfnis, wie Kant sagt, auf dem Platz zu stehen. Alles andere legt er in die Hände Gottes, und der ist er womöglich selbst, so schließt sich für ihn der Kreis. Und das schließt jeden Zweifel aus.

Zweifel, die die Deutschen haben?

Die Deutschen sind Zweifler vor dem Herrn, das liegt in ihrer Natur. Sollen wir mit nur einem Stürmer zur WM fahren, warum schießen wir nur sechs Tore gegen Armenien? Muss ich mehr sagen?

Das ist doch nur ein Schutzmechanismus!

So wie bei den Fußballtrainern, die ihren jeweils nächsten Gegner stets über den grünen Klee loben, damit ihnen hinterher im Falle einer nicht für möglich gehaltenen Niederlage niemand vorwerfen kann, sie wären nicht vorsichtig genug gewesen. Metaphysik eben, alles nicht messbar und außerhalb meiner persönlichen Kontrolle.

Herr Druck, ich glaube wir sollten an dieser Stelle mal langsam zum…

…Wesentlichen kommen? Gern. Versuchen Sie es doch mal mit Spaß haben. Sie werden sehen, Druckzuck geht es ihnen besser, und Sie fragen sich, warum zum Druckuck Sie sich nur solche Sorgen machen.

Und „Druck the EU“?

Sie haben’s begriffen.

Danke.

Bitte.

 

P.S.: Hier noch der Musikwunsch unseres Interview-Gasts:

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