Pazifist in der 1. Person Singular – Teil 6: Trauerklöße an die Front

Seit Beginn des offenen Angriffskrieges Russlands hadern die Mittelosteuropäer mit dem zögerlichen Westen: Warum springt ihr den Ukrainern nicht ohne Wenn und Aber bei? Mein Freund Igor aus Prag hatte in seinem Blog auf der Website von „Respekt“, dem wichtigsten Nachrichtenmagazin in Tschechien, versucht, es seinen Lesern zu erklären.

Patronenhagel im Spiegel – Im Museum in Banska Bystrica zeigt eine Spiegelwand voller Hülsen, wie viele Kugeln ein deutsches Maschinengewehr im Zweiten Weltkrieg in einer halben Minute abfeuern konnte, nämlich sechshundert. Jeder Schuss ein Treffer? Die Effektivitätsbeschwörung wird durch den Spiegeleffekt, den jede Aggression auslöst, geradezu zur Aufforderung. Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Danke Igor! Dafür, dass Du soviel Geduld mit mir hast – was natürlich für all die anderen Langmütigen ebenso gilt, die sich, seit ich vor fast einem Jahr begonnen hatte, auf Igors Artikel zu antworten, bis hierher hindurchgelesen haben. Und schließlich könnte ich sogar behaupten, dass sogar der Krieg Geduld mit mir hat. Er, Russlands Angriffskrieg auf seinen Nachbarn, dauert nun schon bald eineinhalb Jahre und eine echte Aussicht auf ein Ende besteht immer noch nicht, sodass er mir genug Zeit lässt, nach der ersten Schockstarre und Verwirrtheit, ausgelöst durch seine brutale Unmittelbarkeit, eine abstandswahrende Betrachtungsposition einnehmen zu können. Es war ein schwieriger Prozess, aus den Trümmern heraus, zu denen meine Überzeugungen bei Kriegsbeginn zerborsten waren, wenigstens eine Haltung für mich zu finden – oder sollte ich besser sagen: eine Haltung zu mir selbst? Denn ohne den inneren Pazifisten wäre das nicht gelungen. So ganz allein gestellt vor die Zumutungen des Grauens, stünde ich wohl immer noch ziemlich hilflos zwischen den geistigen Ruinen der Zeitenwende. Er, der Pazifist, brachte mich zunächst zum Zittern; zeigte mir, dass ich damit nicht allein bin; führte den mir innewohnenden Zynismus vor Augen; verhinderte, dass ich seine richtige Frage zum falschen Zeitpunkt stelle; und ließ mich schließlich wieder ins Sofa der Illusionen gelümmelt ein Schwein unter Schweinen sein. Dabei drängte er mir ohne Rücksicht auf Verluste ständig neue Fragen auf – und was für welche! Aber immerhin, jetzt, ins Sofa gelümmelt, traue ich mich, seine Fragen in die Welt hinauszuposaunen: Ist die Atombombe Gott-Ersatz? Ist militärisches Denken eine Kriegserklärung? Ist Produktion auch Krieg? Und ist trotzdem nicht jeder Mensch ein Krieger?

Die Fragen sind in der Welt, ob sich aber jemand findet, der sich an der Beantwortung versuchen wird? Und dem es dämmerte, welche Schlüsse aus ihrer Bejahung zu ziehen wären? Und der bereit wäre, die Konsequenzen aus seiner Antwort zu tragen? Vermutlich gibt es diese Jasager und vielleicht gar nicht mal so wenige. Aber sie wüssten natürlich auch, dass es nicht nur auf sie selbst zukäme, diese Konsequenzen zu tragen, sondern auf alle anderen auch, zumindest, wenn wir gemeinsam bewältigen wollten, was da noch alles auf uns zukommen wird – und zwar ganz unabhängig davon, ob dieser Krieg dann beendet sein wird oder nicht. Und wissend, dass es nicht nur auf mich ankäme, was schon aussichtslos genug erscheint, sondern auf alle anderen auch, müsste ich meinem Pazifisten zurufen: Vergiss und sei gewiss, alles bleibt wie’s ist… Nein, schallt es zurück, da tut sich was! Aber wie erkläre ich mir selbst, dass es eben doch eine Aussicht gibt, es könne noch anders kommen? Indem ich unsere einzige Handlung gegen den Aggressor, mit der wir alle tatsächlich als Täter und Opfer in diesen Krieg eingebunden sind, umkehre und auf uns selbst anwende. Also bitte:

Die offenen Kampfhandlungen sind bislang lokal begrenzt und der mehr oder weniger dosierte Zufluss unserer Rüstungsgüter ins Kampfgebiet soll dafür sorgen, dass es dabei bleibt. Allerdings setzen wir ein Kampfmittel aktiv gegen den Feind ein, das von uns allen einen Einsatz einfordert: die wirtschaftlichen Sanktionen. Und ausgerechnet die Maßnahmen, die unsere Wachstumsgesellschaft gegen den Kriegsaggressoren ausgesprochen haben, bieten in ihrem Umkehrschluss einen Einblick in unser kollektives schlechte Gewissen.

Sanktionen senden immer auch eine Botschaft an jene, die sie aussprechen. Damit sie wirken, müssen den Sanktionierern ebenfalls wehtun. Das eigene Leiden dient der moralischen Selbstbestätigung der Ernsthaftigkeit bei der Verfolgung der mit den Strafmaßnahmen verbundenen Ziele. Niemand vermag wirklich absehen, was seine Sanktionen beim Sanktionierten schließlich bewirken, zumal, wenn sie ihn wirtschaftlich schwächen sollen: Findet der Gestrafte andere Wege, um seinen Geschäften weiter nachzugehen? Oder kratzen ihn die erlittenen Verluste gar nicht so sehr, weil sie auf Feldern eintreten, die ihm weniger bedeuten, als dem Strafenden selbst? Wenn die Wirtschaftskraft um ein paar Prozentpunkte sinkt, mögen die Grundfesten einer Wachstumsgesellschaft ins Wanken geraten, doch auf der Gegenseite wiegen vielleicht weniger fassbare und kaum zu sanktionierende, kulturell bestimmte Lebenseinstellungen höher. Und deren Abwehrkräfte gegen Anfeindungen von Außen könnten ausgerechnet durch Sanktionen noch gestärkt werden.

Hätte hätte Lieferkette – Hatte man also bei der Wahl der Strafen etwa sich selbst zum Vorbild genommen und sich gefragt, was würde uns denn treffen? Oder ging der Zusammenstellung der Sanktionen eine unbewusste Selbsterkenntnis voraus, dass sich dieser Katalog der Maßnahmen gegen den Aggressor liest wie ein Vorlauf für jene Einschränkungen, die wir früher oder später uns selbst aufbürden müssen, um gegenüber den tatsächlich vor uns stehenden Herausforderungen durch den Klimawandel bestehen zu können? Denn wie gegenüber einem Spiegelbild verordnen wir dem Aggressor, was wir in Anbetracht der ökologischen Krise von uns selbst einfordern müssten: Wirtschaft verlangsamen, Wachstum drosseln, Ressourcenverbrauch herrunterfahren, Lieferketten regionalisieren, Mobilität reduzieren, Urlaubsreisen einschränken, Flugzeuge stillegen, Wohlhabende zur Kasse bitten und den Superreichen ihre Klimakillerspielzeuge wegnehmen – kurz: eine Friedensökonomie einrichten, und zwar für den Frieden mit uns selbst.

Ach je, glaubt mein Pazifist wirklich, dass sich im Umgang mit dem Kriegsaggressor schon die kollektive Einsicht in die eigene Aggression, die sich ja – wie jede Aggression – letztlich gegen sich selbst richtet, niederschlägt? Lässt man sich jedoch darauf ein, auf das Sanktionspaket wie in einen Spiegel zu schauen, kann man immerhin die größte Herausforderung erahnen, vor der wir gemeinsam stehen: nämlich anzuerkennen, dass sich die moderne Menschheit ein umfangreiches und vielgefächertes Übertötungsarsenal zugelegt hat. Und wenn es bei der Produktion seiner Überflussgüter zur Explosion gebracht wird, ist jeder einzelne von uns beides zugleich: Opfer und Täter. Dabei spielt es keine Rolle mehr, ob es einst als Ausdruck der Freiheit und Gerechtigkeit galt, sich einen stetig wachsenden Anteil an den viel zu vielen Waren zu sichern. Opfer sind Täter, Täter Opfer, Adé du schöne saubere Welt der ordentlichen Moraltrennung und des nachhaltigen Werterecyclings.

So weit, nicht so neu, doch was nun, Pazifist? Willst du mich dazu bringen, die Illusionsspirale noch weiter zu drehen? Soll ich jetzt vom Sofa der Illusionen aus etwa auch noch den Übeltätern ins kollektive schlechte Gewissen reden? Im neonaiven Glauben, dass sich darin etwas regen würde und dieses kollektiv gewordene schlechte Gewissen größere Aggressionsvermeidungspotentiale hat als meines?

Zittert in Frieden – Aber nein, so naiv ist mein Pazifist nicht, denn er ist ja kein Moralist. Er sorgte bloß für meinen Tatterig vor der Tastatur, damals vor einem Jahr, als ich den Waffenkatalog für Geschenkgutscheine zur Aufstockung der militärischen Arsenale der Ukraine übersetzen sollte: Treffsicherheit, Robustheit und die bereits in vielen Konflikten erprobte Durchschlagskraft der nachgefragten Pistolen, Gewehre, Geschütze und Panzer werden gepriesen – doch die Vorstellung, welche Verheerungen das Kriegsgerät letztlich anrichten wird, ließ mich erzittern und machte mir die Ausführung des Spezialauftrags zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Angegriffenen unmöglich. Keine fundierte Abwägung, ob Waffenlieferungen richtig oder falsch sind, lag meiner Untauglichkeit zugrunde, sondern eine unmittelbare körperliche Reaktion auf meine Phantasien von umherfliegenden Gliedmaßen und spritzender Gehirnmasse. Selbst die eindeutige Zuteilung der Täter- und Opferrolle in diesem beiderseitigen Blutbad ließ mich nicht wieder arbeitsfähig werden. Was hat es zu bedeuten, wenn man nicht aus seiner Haut kann und plötzlich erlebt, dass Pazifismus gar keine politische oder ethische Haltung ist, sondern eine körperliche, die man am eigenen Leib verspüren kann? Das Gezitter hat mir ein für alle Male klargemacht, wo die Frontlinie verläuft, an der mein Einsatz gefragt ist: nämlich irgendwo dadrin in mir.

Allerdings eignet sich der Pazifist nicht dazu, in der ersten Kampflinie zu stehen. Mich aber mal soeben zur zitternden Heulsuse machen, das kann er: lässt mich mitten in den Antagonismus von Krieg und Frieden gestellt wie ein kleines Kind vor einem unauflöslichen Dilemma einfach darauflos weinen, ganz so, als würden Tränen allein schon eine Haltung zu Krieg oder Frieden ausdrücken. Immerhin, diese Tränen haben nicht gelogen, denn tatsächlich wusste ich nicht mehr, wohin ich in diesem Zwiespalt sollte. Doch übers Flennen hinaus lässt mich der Pazifist keine Position beziehen. Stattdessen hat er mich zum Drückeberger gemacht, der nicht über seine Kampfeslaune und Angriffslust sprechen will, sondern die strukturelle Gewalt allen Militärischen zum eigentlichen Thema erhebt. Und natürlich: in dieser Struktur will ich gar nicht erst eine Gefechtsstellung einnehmen, nicht einmal als Lippenbekennender.

Wie bitte? Ausgerechnet, wenn es um Krieg oder Frieden geht, hält sich mein Pazifist heraus? Und was nun? Zur Debatte, ob Waffenlieferungen Sieg oder Verhandlungen Niederlage bedeuten, habe ich nichts beizutragen. Über die Stärken und Schwächen und das Schwächen und Stärken der Stärken und Schwächen zu sprechen ist ja schön und gut, aber für die Sofahelden jedweder Orientierung nur eine Beschäftigungstherapie, die ihnen vorgaukelt, sie würden im Ringen um Krieg und Frieden mittun. Und trotzdem fühlt es sich für den Drückeberger zum Heulen an, als Zyniker erkennen zu müssen, dass es keinen Gewinner geben kann, wenn Frieden so total sein soll, wie der Krieg sein müsste, der ihn erzwingen könnte. Krieg und Frieden sind in dieser Konstellation die zwei Seiten nur einer Medaille, um die zu ringen sich für den Pazifisten nicht lohnt. Denn geht es nach ihm, soll man Schlachten, bei denen nichts zu gewinnen ist, gar nicht erst schlagen.

Trauerkloß – Da hatte ich mich gerade wieder zu den eifrigen Sofatheoretikern gesellt, doch worüber sollen wir Sitzgruppenokkupanten jetzt noch miteinander reden? Werden wir alle in Sprachlosigkeit verfallen, weil wir, obwohl wir die gleichen Worte – Krieg und Frieden – benutzen, keine gemeinsamen Begriffe mehr haben? Nein, gedankenvolle Stille zieht trotzdem nicht ein, doch was zu sagen haben nur die anderen. Ihnen gehen die Reden leicht von den Lippen, sie verfallen gar nicht erst dem Tatterig. Lohnt es sich wirklich, sich in dieser Zeitenwende einer inneren Stimme anzuvertrauen, die in einen Zwiespalt herbeizittert, aus dem man nur herauskommt, wenn man sich eingesteht, zu den hitzigen Debatten nichts beizutragen zu haben? Ja, ich habe mich dem Pazifisten ausgeliefert, weil ich nicht anders kann. Ach, würde doch stilles Jammern als ausreichender Diskussionsbeitrag anerkannt. Aber wer mitreden will, muss wieder Worte finden, und ja: da gibt es etwas, worüber wir über die Sofaecken hinweg doch noch ins Gespräch kommen können.

Und so wird diese Betrachtung nun um einen letzten Versuch verlängert, trotz großer Gegensätze noch eine Gemeinsamkeit zu finden. Wenn es auch nicht mehr – wie ganz zu ihrem Anfang – es darum geht, den Gegensatz zwischen Ost und West zu überbrücken. Denn zumindest politisch unterscheiden sich die beiden europäischen Himmelsrichtungen in Bezug auf den aktiven Beitrag zu diesem Krieg nur noch graduell. Vielmehr geht es nur noch darum, wie wir miteinander klarkommen – und zwar jeder für sich…

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