Pazifist in der ersten Person Singular – Teil 2: Im Moment des Schreckens

Seit Beginn des offenen Angriffskrieges Russlands hadern die Mittelosteuropäer mit dem zögerlichen Westen: Warum springt ihr den Ukrainern nicht ohne Wenn und Aber bei? Mein Freund Igor aus Prag hatte in seinem Blog auf der Website von „Respekt“, dem wichtigsten Nachrichtenmagazin in Tschechien, versucht, es seinen Lesern zu erklären.

Schießbefehl, Scheißbefehl – im Museum über die nationale Erhebung der Slowakei gegen die Deutschen in Igors Heimatstadt Banska Bystrica zielen die ausgestellten Weltkriegspistolen alle in eine Richtung, und vermutlich auf den Feind. In Wahrheit fliegen ihre Kugeln aber immer in beide Lager. Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Danke Igor! Dafür, dass Du mich mit Deinem Aufruf an Deine Landsleute, ein wenig Verständnis für die Bewohner aus dem Westen unseres Kontinents aufzubringen, dazu gebracht hast, mir Gedanken zu machen, warum ich so bin, wie ich bin. Im ersten Teil dieser Betrachtung musste ich feststellen, dass es nicht unbedingt die Atombombe oder die Angst vor einem Atomkrieg ist, die mich zum Pazifisten macht. Natürlich bin ich – so wenig wie fast jeder andere Mensch auch – nichts zu hundert Prozent, und schon gar nicht Pazifist. Aber es sträubt sich in mir etwas, wenn mir Zerstörung, Mord und Totschlag als unabdingbare Notwendigkeit verkauft wird. Ob es sich lohnt, sich einmal anzuhören, wie jemand dazu kommt, sich selbst in dieser Situation immer noch davor zu sträuben? Unternehmen wir nun den Versuch, dem Pazifismus selbst in unseren Zeiten einen Wert beizumessen. Und sollte, liebe Leser von Fern und Nah, das in euren Ohren schließlich doch nur wie Blödsinn klingen, hättet ihr ja wenigstens was zu lachen. Also bitte:

Wie erklärt man jemandem, der eine gefestigte Position gefunden hat, denn Wert einer Haltung, die, sobald sie sich verfestigt hätte, nicht mehr dieselbe Haltung sein könnte? Wie also erklärt man einem überzeugten Streiter für Freiheit und Unabhängigkeit den Wert des Pazifismus?

Ein tschechischer Diplomat, der auf unterschiedlichen Posten Botschafter seines Landes war, hatte mir einmal seine tiefe Verachtung für Willy Brandt und die Entspannungspolitik seit den 1970er Jahren kundgetan. Wie sehr hatte sich der damals noch junge Mann während der 1980er Jahren gewünscht, die NATO wäre trotz der nuklearen Bedrohung einmarschiert und hätte die Tschechoslowakei von den Sowjets befreit. Selbst eine Wiederkehr deutscher Truppen wäre ihm recht gewesen. Und dass der Kommunismus wenig später ganz ohne Krieg zusammengebrochen ist, hat ihn nicht einmal im Nachhinein vom Segen der Geduld und des langsamen, aber nachhaltigen Wirkens überzeugt. Seine Überzeugung hingegen blieb bis heute dieselbe, fest und unumstößlich.

Nach dieser Überzeugung bin ich mit meiner Haltung nun Teil der fünften Kolonne Putins, ein Kriegstreiber aus Dummheit. Und was bleibt anderes, als einzugestehen, dass in den westlichen Gesellschaften sich ein pazifistisches Grundgefühl breitgemacht hat, das sich nicht so mir nichts, dir nichts aufgeben ließe. Und besonders viele Menschen sind – wie kürzlich eine tiefgehende Betrachtung über die pazifistische Scham in der französischen Zeitung Le Monde hervorhob – in Italien und Deutschland von diesem Gefühl erfasst. In Frankreich ist der Pazifismus mit der Scham der Niederlage von 1940 verbunden, für die die Friedensnaivität der 1930er Jahre und die Beschwichtigungspolitik des Münchner Abkommens 1939 – also die kampflose Preisgabe der Tschechoslowakei an Hitler – verantwortlich gemacht wird. In Italien und vor allem in Deutschland überwiege hingegen – so die Analyse – die Scham über den in seinem Wesen kriegerischen Faschismus und Nazismus, der nur mit den vereinten Kräften der Alliierten niedergerungen werden konnten.

Wir sind Weltmeister! – Aus heutiger Sicht war die Entnazifizierung und Umerziehung sehr erfolgreich, zumindest, wenn ich sie auf mich beziehe – zu erfolgreich wohl, wenn es nach unseren jetzigen Alliierten aus dem Osten Europas geht. Gefordert wird von einem Deutschen, will er schon nicht an vorderster Front mehr in den Krieg ziehen, sich wenigstens dafür zu schämen. So zumindest scheint das neue Mindestanforderungsprofil an einen Deutschen bei unseren östlichen Nachbarn zu lauten. Doch ich kann nun Menschen aus den Ländern, die einst Kriegsopfer der Wehrmacht waren, beruhigen: Auch hierzulande wird die Luft der Toleranz gegenüber pazifistischen Positionen immer dünner.

Es herrscht Zeitenwende und mit ihr wendet sich das Vokabular. Frieden? In den TV-Runden müssen sich Waffenstillstandsapostel von den medialen Vertretern der achtzig Millionen Geostrategen, zu denen die achtzig Millionen Virologen in einem einzigen Evolutionssprung mutiert sind, mangelndes Mitgefühl ankreiden lassen, wenn sie die Lieferungen von schweren Waffen in Kriegsgebiete noch unwohl stimmen. Stattdessen dürfen Fernsehfeldherren ferne Siege genauso für sich in Anspruch nehmen, wie die vormals achtzig Millionen Bundestrainer vom Sofa aus Fußballweltmeister geworden sind: „Wir haben sogar die Schlangeninsel zurückerobert“, jubelte seinerzeit unwidersprochen ein deutscher Talkshowmaster.

So schnell kann’s gehen. Jetzt im Krieg werden – wie immer in Kriegen – die Siege gefeiert und nicht das Zurückschrecken vor Gewalt. Führungsstärke wird von den Deutschen gefordert, sogar aus dem Ausland. Doch ist es wirklich ein Zeichen wiedergewonnener Führungsstärke, wenn sich zeigt, dass eine lange vorherrschende Einstellung – nie wieder Krieg! – gar keine gefestigte Haltung war? Ob unser schneller Wandel zu Sofabellizisten nun den mittleren Osten Europas beruhigen sollte, lasse ich dahingestellt. Aber es ist mittlerweile einfach so: Selbst den einstigen Sofapazifisten ist vor lauter Wendungen der Zeiten und all den Rollen rückwärts in Tarnfarben auch schon ganz schwindlig geworden. Mit ihren Argumenten, egal, ob sie sie aus der dunklen deutschen Geschichte oder der Logik von vormaligen Friedensschlüssen herleiten, wirken die Friedensjünger vor der unmittelbaren Macht des Faktischen und Taktischen wie auf verlorenem Posten.

Haben Sie gedient? – Anbetracht der Kriegsgräuel sehen sich alternde Peaceniks vor dieselbe Frage gestellt, wie einst die westdeutschen Kriegsdienstverweigerer von der KDV-Verhandlungskommission. Nur was heute eine Aufgabenstellung aus der furchterregenden Wirklichkeit ist, schien damals noch vom fernen Radio Absurdistan zu uns zu rauschen: Ein Russe vergewaltigt Ihre Mutter und Sie haben eine Pistole zur Hand, werden Sie schießen? „Ja“, hätte natürlich auch schon damals der junge Mann im wehrdienstfähigen Alter gesagt, der, wie alle kleine Jungs, im Traum als Superman die Bande der Schulhoftyrannen im Alleingang krankenhausreif geschlagen hat. Doch die Antwort musste „Nein“ lauten, wenn man statt fünfzehn Monaten Wache achtzehn Monate Betten schieben wollte.

Das Absurde in der Frage war nicht die abgefragte Situation, sondern die geforderte Antwort. In ihr offenbarte sich die Diskussionsverweigerung über die tatsächlichen Gedanken, die der tauglich gemusterte männliche Heranwachsende mit seiner Kriegsdienstverweigerung verband: Nicht die Rolle des Soldaten, nicht die Art des Dienens in der Armee, nicht der in ihrer Existenz angelegte Kriegsautomatismus oder die Überwindung scheinbar urmenschlicher Aggressionspotentiale sollten zur Sprache kommen. Wenn es aber doch geschehen wäre, hätte man dann über alle Zweifel erhabene Ja-Nein-Antworten geben können? Oder ist die Aufrichtigkeit der pazifistischen Haltung in dem Moment widerlegt, in dem sie zur unumstößlichen Überzeugung geworden ist?

Diese Erinnerung an die seinerzeit nicht geführten Dialoge steigt fast schon unweigerlich beim Schauen der allabendlichen Fernsehdebatten auf, in denen erstaunlich viele Frauen meiner Alterskohorte, die sich ja damals nicht mit einer konkreten Entscheidung über eineinhalb Jahre ihres jungen Lebens plagen mussten, sattelfeste Positionen zu Waffensystemen, Militärtaktik und Geostrategie einnehmen. Das sind Diskussionen, in denen sich schnell mitreden lässt, verfolgt man nur aufmerksam genug die Nachrichten. Gleichsam sind ihre Gegenstände auf ihre grausige Weise zu wirklich, um durch das bloße Darübersprechen etwas daran ändern zu können. Und für Pazifisten wäre dabei ohnedies nichts zu gewinnen. Wenn es nun erst einmal um die Frage nach Sieg oder Niederlage geht, sind ihre Bedenken nicht gefragt. Dass ihre Haltung aber nicht einfach so untergeht, das sollten mir ausgerechnet Franzosen bestätigen – und zwar mit ihrer Scham.

Applaus! Applaus? – Im Straßburger Nationaltheater TNS lud die Theatergruppe Dakh Daughters aus Kiew zum „Danse Macabre“. Unter der Leitung des Theatermachers Vlad Troisky sangen die sechs jungen Musikerinnen mit ihren kräftigen Stimmen vom Krieg und Leid, schoben in einer verwirrenden Choreografie hastig ihre Flüchtlingsrollkoffer über eine notbeleuchtete Bühne, kauerten bei Anschlagen der Sirenen in sich zusammen und trugen Berichte von ukrainischen Frauen über Tod und Vergewaltigung vor. Das Publikum ging eifrig mit: Es klatschte, wenn es schwungvoll war, zuckte beim Alarm, schwieg betroffen, wenn die Geschichten allzu grausig wurden.

Doch dann kam dieser eine Moment. Eine Schauspielerin gab eine Begebenheit aus dem Krieg wieder. Sie erzählte von einer alten Frau, deren Dorf in den ersten Kriegstagen hinter die Front geraten war. Wie ein Orakel riet die Greisin nun den jungen russischen Soldaten abzuhauen, ansonsten müssten sie alle sterben. Die ukrainische Armee kam zurück und ihre Prophezeiung bewahrheitete sich, auf der Straßburger Bühne konnte die Erzählerin vermelden: Die einstigen Besatzer sind alle tot! Applaus, Applaus… Nein, nur ein oder zwei siegestrunkene Klatscher waren zu vernehmen – und die anderen? Ihre Hände rührten sich nicht, vielleicht, weil da sich etwas in ihrem Inneren rührte.

War das der Moment, in dem sich die Grenze zwischen Feind und Mensch verwischt? Oder die Erkenntnis aufstieg, dass Schwarz und Weiß keine Farben sind, die dazu taugen würden, den Menschen in seiner ganzen Widersprüchlichkeit darzustellen? Bremste ein Pietätsgefühl den Gefühlsausbruch über die Siegesmeldung? Oder war es ein Augenblick, in dem die Menschen, die doch immer wollen, dass das Gute bedingungslos siegen möge, gleichsam ein wenig vor ihrer eigenen Bedingungslosigkeit erschraken? War es einer dieser Momente, in denen der Mensch Angst vor sich selbst bekommt?

Am Ende des „Danse Macabre“, als die ukrainische Fahne flatterte, brandete der Applaus umso heftiger auf, aber er konnte diesen einen Moment der Stille nicht mehr übertönen, in dem der Pazifist in uns sich zur Stelle gemeldet hatte.

Mittlerweile hatte Igor einen weiteren Artikel in seinem Blog beim tschechischen Wochenmagazin „Respekt“ veröffentlicht, worin er die Energieabhängigkeit von Russland, dessen Krieg und die unersättliche Sucht nach dem Wirtschaftswachstum im Westen in ihren Zusammenhang stellt. Im dritten Teil dieser Betrachtung wird es darum gehen, dem inneren Pazifismus in dem Geschehen auf der großen Weltenbühne eine tragende Rolle zuzuweisen…

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste