Pazifist in der Ersten Person Singular – Teil 3: Keine Liebesgrüße nach Moskau

Seit Beginn des offenen Angriffskrieges Russlands hadern die Mittelosteuropäer mit dem zögerlichen Westen: Warum springt ihr den Ukrainern nicht ohne Wenn und Aber bei? Mein Freund Igor aus Prag hatte in seinem Blog auf der Website von „Respekt“, dem wichtigsten Nachrichtenmagazin in Tschechien, versucht, es seinen Lesern zu erklären.

Morden für Orden – oder umgekehrt? Orden für ... Aber halt! Im Museum in Banska Bystrica zum Gedenken an den slowakischen Aufstand gegen die Nazibesatzung gelten die radikal-pazifistischen Maßstäbe nicht. Heißt das, dass sie gar keine Geltung hätten? Und wer entscheidet darüber? Die Geschichte, sagen die Täter und Opfer unisono und richten Museen ein. Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Danke Igor! Dafür, dass Du in dem jüngsten Artikel auf deinem Blog auf den Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum, unserem Energiehunger, diesem Krieg und den Rückwirkungen der gegen Russland ausgesprochenen Sanktionen dargestellt hast. Ja mehr noch: Man könnte den Krieg als Zeichen dafür deuten, dass unsere Sucht nach stetigem Wachstum anderswo in der Welt entsprechende Schmerzen verursacht… Ich gebe zu, dieser letzte Satz stammt schon aus meiner Feder und er deutet an, worauf dieser dritte Teil der Betrachtung eines Pazifisten hinaus will. Nach der Angst vor dem Atomkrieg im ersten Teil und der schamvollen Erkenntnis im zweiten Teil, dass in uns allen ein Pazifist steckt, folgt nun eine direkte Auseinandersetzung zwischen diesem inneren Angsthasen und der Welt da draußen. Vielleicht hilft es ja über die ärgsten Selbstzweifel hinweg sich klarzumachen, dass Pazifismus keine moralische, sondern eine körperliche Haltung ist. Also bitte:

Wie erklärt man Pazifisten, die noch gar nicht ahnen, dass sie auch welche sind, den Pazifismus? Eine Schock- oder Horrorgeschichte muss es schon sein, mit der man ihnen beikommt, eine von der fiesen Sorte, die sie innerlich frösteln lässt. Aber gleichzeitig muss es eine Erzählung bleiben, die ganz ohne Gewaltszenen auskommt – kurz: ich erzähle am besten von mir.

Vor wenigen Wochen, als es der Krieg in der Ukraine noch uneingeschränkt die Schlagzeilen unserer Nachrichten bestimmte, bekam ich von meinem Arbeitgeber einen Spezialauftrag, nämlich „freudige Überraschungen an Putin“ zu senden. Nein, das war kein verdeckter Einsatz im Kampfgebiet, sondern eine offene Tätigkeit im Beschaffungs- und Finanzierungswesen für das ukrainische Verteidigungsministerium – kurz: Ich sollte eine tschechische Website übersetzen, mit deren Hilfe Spenden für Waffen eingesammelt werden soll. Also begann ich: Thermo-Unterwäsche, schützt vor Kälte im Schützengraben und im Gefecht; festes und sogleich flexibles Pistolenhalfter für die Handwaffen; moderne ballistische Kampfhelme; Patronenmagazine für die Kalaschnikow AK-47, einfach und klassisch, allzeit einsatzbereit; Handgranate F-1, die sich schon in vielen Konflikten bei der Offensive und Defensive bewährt hat; Typ 58 Maschinenpistole, die über 300 Meter trifft und so robust konstruiert ist, dass sie Beschuss widersteht und im Falle eines Falles immer sogleich an den nächsten Kämpfer weitergereicht werden kann; das Snaiperskaja Wintowka Dragunowa, ein bewährtes Scharfschützengewehr im Kaliber 7,62 x 54 mm aus russischer Produktion, das bei hoher Objekttreffsicherheit sehr zuverlässig ist…

Da wackelt die Wende – Ungefähr an dieser Stelle brach ich meinen Auftrag ab. Warum? Wer beim Lesen bereits seinen Pazifisten in sich gespürt hat, sollte besser die folgenden drei Zeilen überlesen. Für alle anderen nur soviel: Vor meinem inneren Auge spritzen Gehirne aus zerborstenen Schädeln, stoben Gebeine umher, sprudelten Blutfontänen – kurz: ich habe regelrecht gezittert, obwohl ich noch nicht einmal bei der Panzerfaust Minomet 52, der Lenkrakete 9K32 Strela-2 oder dem Panzer T-72 angekommen war.

Zu spät, mein Pazifist in mir war nicht mehr niederzuringen und sitzt nun auf der Anklagebank: Mit der Zitterpartie vor der Tastatur hat dieser innere Schweinehund die westlichen Werte verraten, die ja nun wieder auf Schlachtfeldern verteidigt werden. Der fünften Kolonne der Schlächter und Verbrecher hat er sich damit angeschlossen… Ja doch, ihr habt ja recht, gesteht der Pazifist bevor die Liste seiner moralischen Verfehlungen länger und länger wird – und macht es kurz: Ich gebe alles zu, denn ich bin der moralisch verwahrloste Teil des Menschenganzen. Mein Pazifist, der in mir schlummert, um ab und zu hervorzubrechen, sorgt dafür, dass ich bei der Ausführung meines Spezialauftrages versage, aber nicht, weil er ach wie moralisch handelt, sondern weil er nicht anders kann: Er ist ein auf sich und seine schalen und wohlfeilen Gefühlchen selbstbezogener kleiner Feigling – und will es mit seinem ganzen Mut der Verzweiflung bleiben.

Eigentlich müsste ich es besser wissen, als mein Pazifist. Denn so naiv zu glauben, unter den Menschen ginge es auch ohne Gewalt, bin ich nämlich nicht. Der Mensch ist ein geborener Bellizist, ein Krieger – wer wollte das noch bestreiten? Seine ureigene Aggressivität muss er ausleben, und in den geordneten zivilisierten Verhältnissen geschieht das eben auch auf geordneten Schlachtfeldern. So jedenfalls sah es der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, als er die Gemeinsamkeiten zwischen Tier- und Menschengruppen beim Umgang mit ihrem Aggressionspotential auslotete. Und wenn das tatsächlich so ist – wofür manches spricht –, wäre es naiv zu glauben, das Schwenken von Friedensfahnen könne Kriege verhindern. Doch ebenso wenig taugte dazu das Prinzip der hochgerüsteten Abschreckung, denn die dürfte einem Urbellizisten kaum die Aggression austreiben. Vielmehr muss ein über sein wahres Wesen aufgeklärter Mensch zum Schluss kommen, dass in seine heute durchschnittliche Lebensspanne von achtzig Jahren unweigerlich ein Krieg und dazu noch eine Pandemie gehört.

Na dann, auf geht’s ins Gefecht im Namen der Freiheit. Wenn seine Werte bedroht sind, muss der Pazifist in uns zurückstehen. Im Hinterland wie dem unsrigen ist die Produktion von Waffen und Munition erste Priorität. In einer Kriegsökonomie darf vor großen Anstrengungen nicht gescheut werden und die Verluste durch Sanktionen gegen unverbesserliche Aggressoren müssen uns lieb und teuer sein. Kurz: Es herrscht Zeitenwende…

Von wegen Zeitenwende! – Und was sagt da mein Pazifist? „Jawoll“, antwortet er, schlägt innerlich die Hacken zusammen und meldet gehorsamst: „Jederzeit bereit“. Dieser Pazifist ist durchaus kampferprobt, denn gegen die vielleicht größte Naivität unserer Zeit war er schon immer immun: die einfältige Annahme nämlich, wir hätten überhaupt je in Friedenszeiten gelebt. Stattdessen sitzen wir in unseren Gefechtsstellungen und machen uns nur gegenseitig vor, es herrsche gar kein Krieg. Dabei erleben wir doch jeden Tag aufs Neue die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Unsere Schlachten schlagen wir an der Produktionsfront, unsere Siegesmeldungen kommen von den Feldzügen des Export-Jihads und unsere Gewinne verbuchen wir an den Börsen. Auf geht’s ins tagtägliche Gefecht im Namen der Freiheit ohne allzu große Rücksicht auf Verluste an Ressourcen und Natur – wenn das nicht schon immer eine Kriegsökonomie war…

„Halt Pazifist, still gestanden, es langt!“ Jetzt muss ich meinen allzu kampfeslustigen Pazifisten aber zur Ordnung rufen. Treibt er es mit der Gleichstellung des Krieges und der Weltwirtschaft nicht zu weit? Konnte ich eben noch für meine Zitterpartie im Mündungsfeuer der Scharfschützen vielleicht etwas Verständnis entlocken, dürfte es nun wieder dahin sein. Zeigt sich in solchen Vergleichen nicht die moralische Verwahrlosung des Pazifisten? Hat er über seine Zitterpartie den Kompass für die Welt da draußen verloren? Aber was hilft’s, mein Pazifist hatte sich wieder zur Stelle gemeldet und tut es, wann und wie er will. Und dass man über die Folgen der Produktionswirtschaft ebenso ins Zittern geraten kann, wer wollte das noch bestreiten? Wenn der Pazifist es also schon so wüst treibt mit seinen Schlussfolgerungen, nutzen wir die Chance, mithilfe seiner unpassenden Vergleiche unserem wahren Wesen noch weiter auf die Spur zu kommen. Lassen wir ihn also fragen, warum Wendezeiten immer dieselben psychologischen Verdrängungskünste aktivieren, wenn sie im Namen der Freiheit vollzogen werden?

Denn kaum anders war es im Jahr 1989. Die Wende in der DDR sorgte nach dem ersten Freiheits- und Konsumtaumel in Ostdeutschland für wirtschaftliche und soziale Verwerfungen – und durch die alte Bundesrepublik ging gleichzeitig ein tiefer Seufzer der Erleichterung: Endlich waren die guten alten Probleme wieder zurück. Die zwanzig Jahre davor war im Westen immer nur dieses Gejammer zu vernehmen über den Zustand der Kultur, die sich völlig von der Natur abgekoppelt hat. Wie etwa 1970 in der FAZ von Alexander Mitscherlich: „Außer auf dem Produktionssektor ist nahezu nichts mehr intakt.“ 1972 dann folgerichtig der bis heute gültige Bericht über die bevorstehende Klimakatastrophe vom Club of Rome. Waldsterben, Ozonloch, Atom – laut bedrückenden Umfragen galt unter Bundesbürgern Ende der 1980er Jahre der Umweltverschmutzung durch unsere Produktionskultur die größte Sorge… Und dann die Wende! Kaufkraft, Arbeitslosigkeit, Rente: Juchu, diese Sorte Krisen kennen wir! Und das Rezept zu ihrer Behandlung auch: Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum…

Hegel hilf? Hilfe Hegel! – Die dreißig Jahre seit jener Zeitenwende von 1990 wurden dann so folgerichtig wie unwiederbringlich in einem hemmungslosen Wachstum verplempert. Wäre der Geist vielleicht zuvor sogar willig gewesen, sich in eine naturschonende Friedensökonomie zu fügen? Einfacher aber war es wohl, sich vor den Konsequenzen des eigenen Handelns in noch mehr Handeln zu vergraben. Und jetzt das Ganze noch Mal, wieder verschafft eine erneute Zeitenwende hin zu alten Fronten dem schwächlichen Geist eine Pause. Kurz: Alles wie gehabt – uff! Uff? Nein, nicht einmal ein Seufzer der Erleichterung will noch gelingen. Zumal nun ausgerechnet ein grausiger Krieg uns nun dazu bringt, mit der Energie und den Ressourcen endlich sparsamer umzugehen. Fast könnte man sich versteigen in einen hegelianischen Glauben an das historisch unabdingbare Auftreten eines Putins: Wenn den Zeitgenossen des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel der revolutionsgeborene Eroberer Napoleon Bonaparte als „Weltgeist zu Pferde“ zu erscheinen schien, der den Lauf der Geschichte auf ihren unweigerlich zu beschreitenden Pfad lenkte, säße dieser Geist heute auf Panzern. Aber wie bitter wären die daraus abzuleitenden Erkenntnisse über das wahre Wesen des Menschen? Insbesondere seiner Fähigkeit, aus eigener Einsicht auch ohne unmittelbare Bedrohung von sich aus zu handeln oder das Tun an der richtigen Stelle zu unterlassen?

Bevor nun auch noch die Liste der moralischen Verfehlungen des ganzen Menschengeschlechts aus Geschichte und Gegenwart lang und länger wird, mache ich es kurz und höre auf die innere Stimme, die meinen Tatterich vor der Tastatur ausgelöst hat. Die Welt wird sie vielleicht nicht erzittern lassen, aber immerhin mich: Friede meiner selbst, lautet die Botschaft des Pazifisten in der Ersten Person Singular.

Mittlerweile habe ich Igor wieder getroffen. Und zwar in Prag, wo die untrügliche Kriegsstimmung langsam der Trauer darüber weicht, dass man nun angekommen ist in Putins Welt. Jener Welt nämlich, in der Krieg ein Mittel ist, um ein Imperium zu verteidigen, das es nicht mehr gibt. Und da wir nun gezwungen werden, auf diese gewalttätige Illusion mit eben diesem Mittel zu reagieren, leben wir nun alle in der kranken Welt des Aggressors. Wenn das nicht traurig stimmt, zumal in einem eigentlich friedliebenden Land. Ob es zur Anhebung der Stimmung beitragen kann, wenn in dem vierten Teil dieser Betrachtung die sinnstiftende Funktion des Pazifismus ausgelotet wird…?

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