Pazifist in der 1. Person Singular – Teil 4: Illusionen sind keine Zirkusnummer

Seit Beginn des offenen Angriffskrieges Russlands hadern die Mittelosteuropäer mit dem zögerlichen Westen: Warum springt ihr den Ukrainern nicht ohne Wenn und Aber bei? Mein Freund Igor aus Prag hatte in seinem Blog auf der Website von „Respekt“, dem wichtigsten Nachrichtenmagazin in Tschechien, versucht, es seinen Lesern zu erklären.

Ladehemmung – ein einzigartiges Fundstück im Museum in Igors Heimatstadt Banska Bystrica ist das in einen Baumstamm eingewachsene Gewehr eines slowakischen Partisanen. Zwanzig Jahre über den Krieg hinaus formte und bewahrte ein tiefer Wald das schließlich museumsreife Gebilde. Über das Schicksal des Schützen ist nichts bekannt. Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Danke Igor! Dafür, dass Du damals im August an Deinem Küchentisch die Trauer mit mir geteilt hast. Und zwar darüber, dass auch wir Bewohner dieser Welt der zwei großen Illusionen geworden sind: Putins Illusion, es gäbe noch sein Imperium, das durch Krieg aufrechterhalten werden kann, in der wir mit dem teils aufgenötigten, teils bereitwilligen Mittun an seinem Krieg nun ebenfalls leben müssen; unserer Illusion, dass wir je im Frieden gelebt hätten, wo doch unsere energiehungrigen Feldzüge für das Wirtschaftswachstum fortwährend Schneisen der Verwüstung in der Natur hinterlassen; und dazu nun die Illusion, mit moralischen Werten seien den tatsächlichen Folgen dieser Illusionen beizukommen… Ich gestehe, diese letzte Allusion war noch kein Gegenstand meiner sommerlichen Küchentischtrübsal. Sie stammt vom Pazifisten in der Ersten Person Singular, diesem Teil des Menschenganzen, den wohl gerade in jüngster Zeit fast ein Jeder einmal wieder kurz in sich verspürt hatte. Die bei weitem meisten Menschen sind nämlich nicht nur uraggressive Bellizisten, sondern gleichsam friedliebende Wesen. Aber was fangen wir mit unserem Pazifisten in der Ersten Person Singular jetzt an? Vielleicht ist es an der Zeit, ihn einfach mal drauflos plappern zu lassen – ihn wieder an die Kette legen, können wir danach ja immer noch. Also bitte:

Wie erklärt man Bewohnern dieser Welt der Illusionen, dass darin einzig der Pazifist keiner Illusion nachhängt? Nur das Mitleid darüber, dass ein Pazifist in die herrschenden Illusionen mit hineingezogen wird, bringt niemanden dazu, seinem inneren Pazifisten zu trauen. Stattdessen muss der Pazifist in der Ersten Person Singular gerade jetzt in die Offensive gehen, frank und frei, und ohne Illusionen über sein wahres Wesen offen sprechen, selbst wenn er dabei gar nicht so gut wegkommt.

Ja, ich bin Pazifist und sage es rund heraus: Ich bin Zyniker. Es stimmt nämlich, was all jene sagen, die jetzt aufrecht auf dem Sofa der Illusionen Platz genommen haben und von dort aus uneingeschränkte Waffenlieferungen fordern: Sie haben die, wenn es nach den Maßstäben der Moral geht, einzige angemessene Haltung im Angesicht der brutalen Aggression eingenommen. Wer in solchen Zeiten auf der harten Küchenbank der Realität angekommen ist und dort weiterhin uneinsichtig über den Verlust seiner moralischen Überlegenheit vor sich herjammert, kann ja nur wie jemand erscheinen, der bloß seinem einstigen, anscheinend ach so gemütlichen Plätzchen auf diesem schönen Sofa der Illusionen hinterhertrauert.

Dabei war es immer so: Pazifismus ist keine moralische Haltung, selbst wenn er sogar einem Pazifisten als ethische Kategorie erscheinen mag. Mit seinem anscheinlichen Moralismus kaschiert der Pazifismus nur den ihm innewohnenden Zynismus. Aber ausgerechnet diese kaltschnäuzige Unbedarftheit ist der Beitrag, den ein Pazifist in diesen Tagen zu den allzu selbstsicheren Debatten beisteuern kann. Dazu muss diese selbstbezogene Heulsuse, die doch eigentlich zu gar keinem Opfer, egal auf welcher Seite, bereit ist, an sich selbst ein Exempel statuieren: Ich muss meinen Pazifisten über seinen Schatten springen lassen und tun, was einzig ein eingebildeter Moralapostel unbeschadet übersteht: nämlich seine Illusionen opfern.

Ach je, das Menschlein – Nur ein Moralist, der eigentlich keiner ist, sollte sich auf dieses gewagte Experiment einlassen. Denn wer von uns ausgerechnet jetzt die Illusionen verliert, setzt die moderne Variante der Menschlichkeit aufs Spiel und damit den Sinn seiner Daseinsprinzipien. Und wir modernen Menschen hegen nun einmal die schönsten Illusionen, wir benennen sie nur anders: Wenn wir unsere sinnstiftenden Prinzipien kundtun, sprechen wir von „Werten“ oder „Rechten“ – und besser, wir erhalten uns in diesen wendevollen Zeiten erst einmal den Glauben, dass es beides wirklich gibt und sie uns tatsächlich in unserem Handeln anleiten. Früher ja, da stand der Pazifist noch in dem Ruf, ein besonders werteorientierter Mensch zu sein. Jetzt ist ihm die Rolle des Zynisten zugewiesen. Aber darin liegt auch seine Chance, denn ohne einen selbsterkenntnisfördernden Zynismus kommt eine moderne Gesellschaft nicht aus.

Es waren schon länger nicht mehr die Krieger und ihr militärischer Geist, denen man die Rolle des Zynisten anheim befahl. Soldaten galt in der jüngeren Zeit mehr unser Mitleid, wenn sie wieder aus ach so guter Absicht auf eine weitere aussichtslose Mission gesandt wurden. Als zynisch galten nun eher die Börsenspekulanten oder Finanzkapitalisten, auf die man in unserer Wachtumswirtschaft trotzdem nicht verzichten will. Mit ihrem gierigen Tun legen sie immerhin die treibenden Kräfte unserer Gesellschaft eiskalt offen. Und jetzt, in Kriegs- und Krisenzeiten, wird der Pazifist zum Zynismus dienstverpflichtet: Er darf nicht nur ungeniert zynisch sein, er muss es sogar. So kann er versuchen, ohne Rücksicht auf moralische Verluste die wahren Wendemarken unserer Zeit freizulegen. Egal, was dabei herauskommen wird: Er meint es nicht böse, er will bloß, das alle wissen, woran sie wirklich sind, wenn zum großen Gefecht geblasen wird – und zwar ohne Illusionen. Und nur unser doch eigentlich so harmlose Pazifist sollte in Kriegs- und Krisenzeiten soweit gehen, seinem Zynismus freien Lauf zu lassen, denn er, immerhin, will ja trotzdem niemandem etwas zu leide tun.

Zuerst ein Geständnis: Der eigene Schatten, den ich mit meinem Pazifist überspringen werde, ist nicht besonders lang. Mir dämmerte schon länger, dass wir Menschenkinder uns in der Dämmerung befinden – zumindest in unserer modernen Variante. Drei Jahrhunderte nach der Aufklärung, dem Age of Enlightenment oder l’Âge des Lumières, als sich der Mensch selbst in den Lichtkegel gerückt hat, wird die Lichtgestalt zum Armleuchter. Aber vielleicht steckt in dieser Erkenntnis eine erneute Erleuchtung: Wir sind, wie wir immer waren. Hätten wir zu dieser Erkenntnis allerdings noch diesen Krieg gebraucht? Ja, denn siebzig Jahre Frieden vor der eigenen Haustür haben uns über uns selbst übermütig werden lassen und glauben gemacht, es gäbe diesen modernen Menschen, vernünftig und wertebasiert, wirklich. Ach, welch süße Illusion war es auch, moderne Denkungsweisen und Methoden führten zu einem besseres Verständnis über sich selbst. Aber jetzt ist klar, der Mensch ist für immer dar alles zugleich: Krieger und Feigling, Bellizist und Pazifist, Moralist und Zyniker.

Ach je, die Menschenherden – Und jetzt müssen wir wieder lernen, dass auch Menschengemeinschaften sich genauso fühlen können wie jeder Mensch sich selbst: beleidigt, erzürnt, übermütig, gierig, unersättlich, bequem, phlegmatisch, minderwertig, ängstlich, deprimiert und wie auch ich mich auch noch alles so fühlen kann. Man braucht nicht einmal zynisch zu sein, um zu wissen, dass sich Menschen insbesondere im Kollektiv in Wahnvorstellungen hineinsteigern können. Ihre Illusionen werden dann zu sinngebenden Grundsätzen – und muss man erst zynisch geworden sein, um einzusehen, dass dieser Wahn früher oder später in Gewalt umschlägt, wenn sich ihre Sinnstiftungsmodelle in die Wolle kriegen?

Wüsste man doch, warum es fast immer so endet? Ein Zyniker hat zumindest eine Ahnung: Alles Unglück erwächst aus der kollektiven Erinnerung, ist sie doch ebenso lückenhaft und selektiv wie meine. Ihre Löcher werden je nach Bedarf mit heldischen oder opfermütigen Narrativen zugeschüttet und mit Prinzipien und Überzeugungen, die sich aus der Vergangenheit herleiten und man heute „Werte“ nennt, eingeebnet. Die gestopften Löcher sind der Kit, der jedes gegenwärtige Sein erst zu einem schlüssigen Lebenslauf in der Ersten Person verkleistert, und zwar sowohl im Singular als auch im Plural, sowohl für mich, als auch für uns. Wäre man kein Zyniker, könnte man jetzt dazu aufrufen, die Geschichtsschreibung einfach zu vergessen und, sobald sich sichtlich die Zusammensetzung der Kollektive oder die äußeren Umstände verändert haben, wahnfrei wieder bei Null zu beginnen. Es wäre jedoch nur eine weitere Illusion darauf zu setzen, dass wir alles Gewesene vergessen können, denn ein bewusstes Ausklinken aus der präsenten Erinnerung ist uns Menschen wohl nicht vergönnt, weder in der Einzahl, noch in Mehrzahl: also werde mir, noch uns.

Des Menschen Wahn – Es wäre ja trotzdem nur halb so schlimm um Menschengemeinden bestellt, wenn sich die Antwort auf die Frage aller Fragen nicht auf den zugekleisterten Erinnerungslücken ihrer kollektiven Glaubenssätze stützen würde: Was ist uns wichtiger? Ruhm und Ehre, Tradition und Religion oder Wirtschaft und Wohlstand? Welche Opfer gelten dafür als geringer? Menschenleben und die eigene Unversehrtheit, Reichtum und Bequemlichkeit oder Natur und Zeit? Sicher, in allen Kollektiven gelten unterschiedliche Werte nebeneinander, und Menschen handeln im Kollektiv genauso wie jeder einzelne auch: moralisch und moralfrei, und zwar immer gleichzeitig – wovon also lassen sich Gemeinschaften oder ganze Gesellschaften letztlich leiten?

Der Zyniker gewinnt seine Erkenntnisse aus der Anschauung des praktischen Handelns. Nicht die üblichen Diskrepanzen zwischen dem Reden und den Taten sind die Quelle seiner Erkenntnis. Sich darüber zu ergötzen, lässt einen altgedienten Zyniker nur müde schmunzeln, würde er sich dabei doch nur – wie schon beim Erinnern – über notdürftig zugekleisterte Löcher beugen. Ach nein, nicht immer und immer wieder dieselbe Übung auf der Suche nach Scheinheiligkeiten, weiß er doch selbst nur zu gut, wie gerne Menschen große Worte machen.

Dieser Pazifist wird sich also nicht erst mit wertegeleiteter Außenpolitik aufhalten. Das bleibt jenen überlassen, die sich weiterhin mit der Hoffnung auf einen Fortschritt der Menschheit belasten. Aber klar, sollen die Hoffnungsvollen es ruhig einmal damit versuchen, ihr Spielraum ist ohnedies sehr begrenzt. Befassen wird sich der Pazifist auch nicht mit dem geopolitisch-wirtschaftlichen Komplex. Denn wöge er all die vermeintlichen und somit vorherherrschenden „Interessen“ der beteiligten Konfliktgemeinschaften ab, käme er zum traurigen Schluss, dass dieser Krieg noch lange dauern wird. Eine kurze Aufzählung der üblichen Verdächtigen und eine zynismusverdächtige Überlegung sollten an dieser Stelle genügen, um aufzuzeigen, wen es zu wägen gelte: Rüstungsindustrie, Ernergiekonzerne, US-Frackinggas oder auch die Vorstellung, demografische Defizite durch geflohene Witwen mit kleinen Kindern abmildern zu können. Zudem ließen sich noch handfeste Verknüpfungen der geostrategischen Interessen anstellen, wohlwissend, dass diese Interessen nur selten deckungsgleich sind mit den langfristigen, vernünftigen oder sinnhaften Interessen der Menschheit als Ganzes – oder wie immer man es nennen könnte, wenn die unvermeindbare Vergänglichkeit der jeweiligen Wirtschafts- und Gesellschaftsform mit in die Abwägung einbezogen würde.

Der Zyniker weiß, dass das gar nicht geschehen kann, allein, weil der Mensch nicht einmal über sein eigenes Ende sinnvoll hinausdenken könnte. Genau aus diesem Grund setzt er mit seiner Bloßstellung der Wegmarken seiner Zeit der Einfachheit halber beim Naheliegendsten an: bei sich selbst und schaut unerbittlich in den Spiegel, worin er einmal mehr den Pazifisten in der Ersten Person Plural entdecken muss. Wird er schließlich wenigstens mit sich selbst Frieden schließen können?

Das war der vorletzte Teil dieser Betrachtung. In der langen Zeit seit diesem Sommer hat Igor einen weiteren Artikel bei RESPEKT veröffentlicht, Titel: Wo ist der Optimismus der frühen Neunziger geblieben? (LINK) Er bezieht sich auf die ersten Jahre nach dem Ende des Sozialismus und erinnert an diese glückliche Zeit der geistigen Freiheit. Sein Empfinden fasst Igor so zusammen: „Zum ersten Mal fühlte ich mich mit meiner Art zu denken ud zu leben der Mehrheit meiner Landsleute zugehörig“. Damit war es schnell wieder vorbei, als Freiheit auch in Tschechien mit materiellem Wohlstand verwechselt wurde. Woher, müsste man wohl heute fragen, soll der Optimismus noch kommen? Die Antwort muss man wohl bei sich selbst finden – genau wie bei der Suche nach dem Frieden im abschließenden Teil dieser Betrachtung.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste