Plötzlicher Redebedarf

Dreieinhalb Monate verweigerten Präsident und Regierung jeglichen Dialog mit den Gewerkschaften und den Franzosen. Jetzt, wo ihre Rentenreform mit Gewalt durchgedrückt wurde, wollen sie wieder reden.

Nach vier Monaten des verweigerten Dialogs will Frankreichs Regierung nun wieder reden. Foto: Ss279 / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Seit dem 19. Januar 2023 gab es ausreichend Gelegenheit für den sozialen Dialog zwischen der französischen Regierung und den Millionen Franzosen, die das Projekt der inzwischen in Kraft gesetzten Rentenreform ablehnen. Diesen Dialog verweigerten Präsident und Regierung konsequent, doch jetzt, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, wollen sie plötzlich alle reden und finden alle, dass der „soziale Dialog“ sehr wichtig sei, zumal die Regierung ja noch jede Menge weiterer Reformprojekte hat. Den Franzosen läuft es bei dieser Ankündigung schon kalt den Rücken herunter.

Heute Abend richtet der Souverän das Wort an diejenigen, die „nichts sind“. Außer seinen immer weniger werdenden Jüngern werden wohl nicht allzu viele Franzosen dieser Ansprache folgen, denn es ist klar, was er dort verkünden wird. Alles vergessen und vergeben und nun geht’s mit Volldampf in die nächsten Abenteuer. Nur – die Franzosen werden in ihrer großen Mehrheit nichts mehr auf solche Palast-Ansprachen geben.

Ähnliches gilt für die Aussagen von Premierministerin Elisabeth Borne, die gerne wiederholt, wie offen die Regierung doch für den Dialog sei. Allerdings vergißt sie zu erwähnen, dass es Dialog nur zu den Themen gibt, zu denen ihr oberster Boss bereit ist. Diejenigen Themen, die seit dreieinhalb Monaten Millionen Franzosen auf die Straße treiben, werden sorgsam ausgeklammert. Dass ein solcher Dialog gar kein Dialog ist, das versteht man in Paris nicht mehr.

Auch Arbeitsminister Olivier Dussopt, der während der gescheiterten Debatten im Parlament regelmäßig die Contenance verlor, redet plötzlich von der Bedeutung des sozialen Dialogs, der dringend wieder aufgenommen werden müsste. Also genau der Dialog, den Macron, Borne und Dussopt seit mehreren Monaten verweigern. Halten diese Leute die Franzosen wirklich für so dämlich, dass sie die Pariser Kommunikations-Strategie nicht durchschauen? Müssen selbst falsche Gesprächsangebote wieder als Verhöhnung der Franzosen gemacht werden?

Nur, die Absolution, die sich Präsident und Regierung großzügig selbst erteilen, haben sie nicht von den Franzosen erhalten, die dabei sind, die nächsten Aktionstage und Streiks vorzubereiten und die entschlossen sind, diese Hau-Ruck-Reform nicht hinzunehmen.

Dass Präsident und Regierung gerne hätten, dass die Proteste aufhören, ist verständlich, denn als nächstes stehen weitere Reformen an, mit denen die Olympischen Spiele 2024 in Paris sicher gemacht werden sollen und dazu will man eben die digitale Vollüberwachung und andere Dinge einführen, die wie immer mit massiven Einschränkungen der Bürgerrechte verbunden sind, wobei Bürgerrechte nun nicht gerade zu den Dingen gehören, die momentan in Paris eine wie auch immer geartete Wichtigkeit hätten.

Doch mit ihrer Haltung bringt die „Macronie“ ihre dringend benötigten Partner der Republikaner (LR), des MoDem, von Horizons und andere in große Schwierigkeiten. Denn wenn die Abgeordneten dieser Formationen weiterhin diese Regierung über Wasser halten, brauchen sie bei den nächsten Wahlen eigentlich gar nicht mehr anzutreten. Nach dem linken Parteispektrum wird Macron also nun das rechte Parteispektrum zerstören, um 2027 die gleiche Nummer durchziehen zu können wie seit 2002 – „wählt uns, sonst bekommt ihr das Rassemblement National“. Was man in Paris wohl noch nicht mitbekommen hat, ist dass viele Franzosen heute das Angebot der Extremisten von links und rechts weniger bedrohlich finden als diejenigen, die gerade das Zepter in der Hand haben.

Diejenigen, die für die aktuelle Lage in Frankreich verantwortlich sind und jetzt einen solchen Redebedarf verspüren, werden wohl in den eigenen Reihen diskutieren müssen. Denn diejenigen, die sie seit Monaten verhöhnen und denen sie einen demokratischen Prozess verweigert haben, werden wohl in absehbarer Zeit nicht bereit sein dafür sorgen, dass diese Regierung behaupten kann, man würde den sozialen Dialog suchen.

Frankreich wird so schnell nicht zur Ruhe kommen und wenn man die internationale Presse liest, auf die Paris keinen Einfluß hat, dann stellt man fest, dass der Stern dieses Präsidenten rapide sinkt. Es ist vermessen zu glauben, dass diejenigen, die Paris seit Monaten am Nasenring durch die Manege führt, in erster Linie die Gewerkschaften, auch diejenigen sein werden, die für Macron & Co. nun den Karren aus dem Dreck ziehen. Und viele Franzosen fangen jetzt an, die Monaten bis 2027 zu zählen, wenn diese Regierung abgewählt werden kann. Wollen die französischen Parteien verhindern, dass 2027 ein Durchmarsch für das Rassemblement National wird, müssen sie sich jetzt neu aufstellen, die „alten Krokodile“ links und rechts in den Ruhestand schicken und bis 2027 politische Talente als Alternative aufbauen. Ansonsten könnte es sogar noch konfliktueller als heute schon werden.

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