Politbarometer statt Wahlen

Die Gestalt von Umfragediagrammen der jüngsten Umfragen zur Parteienpräferenz in Deutschland erinnert an das bunte Treiben in einem Entenpfuhl: Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen in die Höh’...

Ah, was für wunderschöne Diagramme... man könnte sich die den ganzen Tag anschauen... Foto: Petruz / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(Von Michael Magercord) – Ich bin süchtig. Nach Säulendiagrammen. Und nach graphischen Darstellung der Entwicklung der Wählergunst. Nach Parteienorakeln. Kurz, nach der Sonntagsfrage: „Welche Partei würden Sie wählen, wenn nächsten Sonntag…?“

Nur um von vornherein klarzustellen: ich bin nicht süchtig nach Wahlen, sondern nur nach Umfragen. Wählen empfinde ich meist als quälend, aber Umfragen zu begutachten gerade zu als Labsal für die Seele. Dabei bricht sich einfach alles Bahn, was unsereinem an niedrigen Instinkten mit auf den Weg gegeben ist. Und das ist einiges: von fieser Häme bis zur besserwisserischen Gehässigkeit. Herrlich, sich ihnen so ungetrübt hingeben zu dürfen, wenn es sich nur um Umfragen handelt, die ja eben keine Wahlergebnisse sind.

Und das Beste: man muss heutzutage gar nicht mehr bis zum Sonntag warten. Fast täglich gibt’s ein neues Diagramm. Nach der Wahl in Hessen hat es drei Tage gedauert, dann ging es wieder los – und wie! Herrliche Häme: Die CDU/CSU ist jetzt im Herbst da angekommen, wo die SPD schon im Frühjahr war; die SPD wiederum braucht sich nicht mehr den Kopf über Kanzlerkandidaten zerbrechen; die Linke dümpelt lau vor sich hin, seit sie ihren Aufstand ins Internet verlegt hat und darüber vergisst, das Geposte auf Facebook noch keine Politik macht; die AfD, lange der Liebling der aufstrebenden Säulen, ist an der Schwelle angelangt, wo ihr Wahlvolk eben doch kein Staat macht; die Grünen sind die Rache des Westens der Republik für die östliche Neigung zur AfD: wer Wind sät, wird Sturm ernten, wenn der Osten rechtsradikal wählt, kriegt er vom Westen die verhassten Grünen vorgesetzt – bätschi! Und die Grünen sollten wissen, dass sie nur einen einzigen Kanzlerkandidaten benennen dürfen, Doppelspitze ist nicht, also was? Mann, Frau oder gleich ’nen X-Gender? Haha… einfach herrlich, das jetzt mal so gesagt zu haben!

Und ist diese freie Meinungsäußerung nicht gelebte Demokratie? Ich finde ja sowieso, dass wir die Demokratie getrost gegen eine Demoskopie eintauschen können. Ist sie ja im Grunde schon. Wenn die Bundeskanzlerin Merkel schon im Sommer wusste, dass sie im Herbst als CDU-Chefin abtreten wird, hat sie den Entschluss nach den Umfragen gefällt, nicht nach Wahlergebnissen. Ja, so wichtig kann abgefragte Meinung sein. Und in einer Demoskopie kann keiner mehr sagen, er wäre nicht gefragt worden. Denn bei Umfragen wird jeder gefragt, selbst wenn er nie gefragt wurde. Im gewichteten statistischen Mittel ist jede Meinung erfasst.

Meinungsumfragen sind eben an sich schon Demokratie, denn Meinung ist das schützenswerteste Gut der Demokratie. Meint man jedenfalls. „Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten“, hatte der Kant, der Denker, noch gesagt. Und zugegeben, so recht weiß ich auch nicht, warum die verquere Meinung so mancher Mitmenschen so ein hohes Gut sein sollte? Zumal die sich ja auch immer so schnell ändern kann, was sich ja auch an den Säulendiagrammen ablesen lässt. Wie sahen die noch vor wenigen Jahren aus? Das kann heute man gar nicht mehr glauben: da waren die Großen von den Kleinen sorgsam durch die Höhe ihrer Säulen geschieden und die Fünf-Prozent-Hürde war noch eine Hürde. Jetzt arbeiten sich die seither zahlreicher gewordenen Meinungskollektive an der zehn Prozentmarke ab, egal ob von unten oder oben kommend.

Aber was soll’s, das macht die Umfragen nur noch aufregender: Wer taucht heute ab, wer reckt sich morgen in die Höhe? Welche Meinung ist auf dem Vormarsch, welche manövriert sich ins Abseits? Das kann sich schnell ändern – je mehr Umfragen, desto schneller. “Zehn Tage vor der Wahl muss Schluss sein, damit genau in diesem Raum dann eine politische Meinungsbildung stattfinden kann, die losgelöst ist davon, auf das zu schielen, was möglicherweise die Menschen denken“, hat vor einiger Zeit eine ach so kluge Journalistin gesagt. Wie bitte? Was hätte das noch mit Demokratie zu tun? Da hilft nur noch eins: die Wahlen abschaffen!

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