Politische Übersprungshandlungen?

Die französische Politik diskutiert seit zwei Jahren grundlegende Gesellschaftsfragen, die allesamt aus dem letzten Jahrhundert zu stammen scheinen.

Zum neuen, stockkonservativen Familienbild Frankreichs würde auch die Wiedereinführung des Prangers passen. Foto: © Dirk Schelpe / www.pixelio.de

(KL) – Wenn ein Nagetier vor einer Schlange sitzt und keine Möglichkeit zur Flucht hat, beginnt es sich konzentriert und angestrengt zu putzen. Bis die Schlange zuschlägt und es auffrisst. So ähnlich sieht es im Moment mit der französischen Politik aus. Unfähig, die aktuellen und grundlegenden Probleme des Landes zu lösen, brechen immer wieder Debatten über Gesellschaftsfragen aus, an denen sich dann alle gemeinsam abarbeiten können. Aber ob sich Frankreich deshalb erholen kann, weil die Nationalversammlung darüber debattiert, ob Eltern ihren Kindern einen Klaps auf den Hintern geben dürfen oder nicht, ist fraglich.

Im Grunde ist es seltsam, dass im Jahr 2014 in Frankreich überhaupt darüber diskutiert werden muss, ob Kinder körperlich gezüchtigt werden dürfen oder nicht. Nach den Debatten um die gleichgeschlechtliche Ehe, bei der in Frankreich ein Familienideal propagiert wurde, das heute nur noch auf einen geringen Prozentsatz der Familien zutrifft, dürfen sich jetzt alle an Themen wie Ohrfeigen und gemeinsames Sorgerecht erhitzen. Das sind Themen, zu denen man wunderbare, von christlichen und republikanischen Werten durchzogene Reden halten kann, ohne dass man irgendwo richtig anpacken muss.

Und ebenso seltsam ist es, dass solche grundlegenden Themen überhaupt noch Gegenstand von Debatten sind, die sogar noch kontrovers geführt werden. Aber vielleicht ist es gut, dass diese Debatten wenige Tage vor der Europawahl geführt werden. Der vorgelegte Gesetzestext zum gemeinsamen Sorgerecht für getrennt lebende Eltern, das vorsieht, dass alle wichtigen Entscheidungen, die das Kind betreffen, die Zustimmung beider Eltern erfordern, stößt bei der konservativen UMP tatsächlich auf Widerstand. Man befürchtet „endlose Verhandlungen“, was für einige konservative Abgeordnete an „die schlimmsten Diktaturen und die Welt von George Orwell“ erinnert.“ Das heutzutage sehr theoretische Familienbild „Mama-Papa-zwei Kinder“ scheint dann doch wichtiger zu sein als das Wohl von Kindern, deren Eltern sich getrennt haben. Was dann auch zu dieser fürchterlichen Unterscheidung zwischen „echten Familien“, „Familien, die noch in einer Paarsituation leben“ und den „Anderen“ führt. In Blick auf die Statistik hätte verraten, dass die „Anderen“ in der heutigen Gesellschaft in der Mehrheit sind und deswegen eigentlich nicht abqualifiziert werden müssen.

Dass die Frage der körperlichen Züchtigung wie Ohrfeigen oder Klaps auf den Hintern in der heutigen Zeit überhaupt noch diskutiert werden muss, wirft die Frage auf, wann sich das französische Parlament mit der Wiedereinführung des „jus prima noctis“, des „Rechts der ersten Nacht“ für lokale Potentaten beschäftigen wird. Wir leben im Jahr 2014 und zumindest Teile der französischen Gesellschaft scheinen von einem Gesellschaftsmodell aus dem 19. Jahrhundert zu träumen. Was dann wiederum, zumindest teilweise, den Aufstieg der Rechtsextremen in Frankreich erklärt.

Frankreich scheint gerade zwischen den Jahrhunderten zu schwanken. Man träumt von Datenschnellstraßen, auf denen sonntags die Familie nach dem gemeinsamen Kirchgang spazieren geht. Mama und Papa vorneweg und die Gouvernante mit den sauber gescheitelten Kindern hintendran.

In Zeiten, in denen das ganze Land gemeinsam an der Bewältigung der aktuellen Krisen arbeiten müsste, reden sich die Politiker die Köpfe zu Themen heiß, die eigentlich gar keine Themen mehr sein dürften. Das sorgt für Emotionen, lenkt von den eigentlichen Problemen ab und ermöglicht den Politikern, sich als Verfechter der guten alten Zeit oder der Moderne zu präsentieren. Der Wunsch nach einem Gesellschaftsmodell, das unter dem Titel „Zurück in die Zukunft“ zu stehen scheint, ist auf jeden Fall beunruhigend. Ach ja, da man sich zur körperlichen Züchtigung von Kindern nicht einigen konnte, wurde dieses Thema auf später verschoben. Und wird dann vermutlich zusammen mit der Frage nach der Wiedereinführung des Scheiterhaufens entschieden werden.

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