„Putin verfolgt mindestens drei Strategien“
Interview mit Olivier Védrine, Experte für Zentral- und Ost-Europa, zu den steigenden Spannungen in dieser Region.

(KL) – Olivier Védrine weiß, wovon er spricht, wenn es um die Lage in Russland und Zentral-Europa geht. Professor, Journalist und Vortragender bei der Europäischen Kommission im Expertennetzwerk „Team Europe“ (2007-2014), war er Chefredakteur der russischen Ausgabe der Pariser „Revue Défense Nationale“ (2010-2014), die von der Militär-Hochschule herausgegeben wird. Anfang 2014 stellte er diese Ausgabe ein, um gegen die Annektierung der Krim durch Russland zu protestieren. Nicht nur politischer Berater zum Thema Ukraine von Henri Malosse, Präsident des Europäischen Ausschusses zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen (2013-2015) in Brüssel, zeichnete er sich ebenfalls als TV-Moderator aus – in mehr als 150 Sendungen auf den nationalen Kanälen in der Ukraine mit seiner politischen Sendung, mit der er die Ukraine und die Europäische Union unterstützte. Als Mitglied der russischen Opposition ist er heute Chefredakteur des „Russian Monitor“, einer Online-Zeitung der russischen Opposition, die jeden Monat mehr als 500.000 Leser hat. Die Internationale Universität Kiev hat ihm den Titel eines Professors h.c. verliehen und aus den Händen des Patriarchen Philaret erhielt er den Orden Sankt Wladimir, eine Auszeichnung, die nur sehr selten an Ausländer verliehen wird. Auf internationalem Parkett war und ist er sowohl an Universitäten und Institutionen in folgenden Ländern aktiv: Frankreich, Ukraine, Russland, Deutschland, Polen, Kanada, Taiwan, Italien, Türkei, Azerbaidjan, Estland, Belgien, Großbritannien, Rumänien, Niederlande, Georgien, Portugal. Interview mit dem Experten zu den Spannungen im Osten Europas.
Olivier Védrine, die Spannungen in Zentraleuropa steigen immer weiter. Washington empfiehlt Moskau bereits, „keinen erneuten Fehler zu begehen“, Russland empfiehlt seinerseits zynisch den Europäern, sie mögen doch mit Lukaschenko verhandeln, der gerade dabei ist, sein Land auch offiziell den Befehlen des Kremls zu unterstellen. Gleichzeitig zieht Russland immer mehr Truppen entlang der ukrainischen Grenze zusammen – wie groß ist die Gefahr einer erneuten russischen Intervention in der Region?
Olivier Védrine: Man muß dringend nach Belarus schauen. Letzte Woche haben sich Russland und Belarus in einer Videokonferenz auf die Gründung einer „Staaten-Union“ geeinigt, die zeigt, dass es das Ziel von Putin ist, eine Art UdSSR 2.0 zu erschaffen. Es ist offensichtlich, dass sich Putin stark für die Ukraine interessiert, was man daran erkennt, dass er einerseits Druck auf die Ukraine ausübt, um das Land von innen zu destabilisieren und gleichzeitig seine Militärpräsenz entlang der russisch-ukrainischen Grenze verstärkt. Sobald diese „Staaten-Union“ zwischen Russland und Belarus in Kraft tritt, ist klar, dass die Ukraine militärisch eingekreist ist, was den Druck noch weiter erhöhen wird.
Man weiß, dass Wladimir Putin momentan unter einem gewissen innenpolitischen Druck steht. Einerseits ist die Opposition trotz aller Oppression weiter präsent, andererseits leidet Russland stärker unter der Pandemie als je zuvor. Versucht Putin gerade von diesen Problemen „abzulenken“, indem er eine Drohkulisse für ganz Zentral-Europa aufbaut?
OV : Dreimal ja… 2014, während der Maidan-Revolution, empfand ein Teil der russischen Bevölkerung Sympathien für die Ukraine, doch danach erfasste sie wieder die Angst vor Putin. Als wir auf dem Maidan waren (Olivier Védrine war der einzige Franzose, der damals auf dem Platz der Unabhängigkeit vor 300.000 Ukrainern sprach! A.d.R.), da sagten wir uns, dass es eine europäische Zukunft für die Ukraine geben könnte. Putin hatte diese Entwicklung verstanden und sofort die ganze russische Propaganda-Maschine in Bewegung gesetzt. Dann kam die Annektierung der Krim, die in Russland seine Popularität weiter steigerte und den Maidan in Russland in Vergessenheit geraten ließ.
Der Westen scheint diese Bedrohungslage sehr ernst zu nehmen. Die französischen Außen- und Verteidigungs-Minister haben diese Woche ihre russischen Kollegen in Paris getroffen. Kann der Westen eine Rolle in diesem Konflikt spielen, der inzwischen eine Gefahr für die Ukraine, aber auch Polen und die baltischen Staaten darstellt?
OV : Europa MUSS eine Rolle in dieser Situation spielen! Aber – hat Europa den Mut, dies auch zu tun? Putin testet gerade den Westen um zu schauen, wie weit er gehen kann. Der Westen muss nun seine Stärke zeigen. Militärisch verfügt Russland über ein Budget, das 10 Mal geringer als das der USA ist und das russische PIB entspricht lediglich dem Spaniens. Aber der Westen ist nicht geeint und Putin wendet die gleiche Taktik an wie die Nazis in den 30er Jahren. Der russische Präsident führt nur bilaterale Gespräche und versucht somit den Westen und dessen verschiedene Akteure zu spalten.
Bei der Annektierung der Krim hat der Westen in der Region nicht eingegriffen. Was ist die Rolle der NATO in dieser Situation?
OV : Dies ist problematisch, denn die Ukraine ist kein Mitglied der NATO. Folglich wird es von dieser Seite keine Unterstützung geben. Es stellt sich allerdings die Frage, wie Polen und die baltischen Staaten in Fall eines Angriffs auf die Ukraine reagieren werden, denn diese Länder sind sowohl Mitglieder der Europäischen Union und der NATO. So oder so, ein erneuter Angriff auf die Ukraine wäre das Überschreiten einer roten Linie, was die gesamte Region in einer schwere Krise stürzen würde.
Sie sind ein herausragender Experte für Russland und die ganze Region. Welche Optionen gibt es Ihrer Ansicht nach für die kommenden Wochen? Müssen wir uns auf eine neue Militäraktion Russlands und der russischen Satelliten wie Belarus einstellen?
OV : So lange Lukaschenko und Putin das Sagen haben, muss man mit allem rechnen. Die beiden sind Erben der Sowjetunion und die Legalität ihrer Aktionen ist ihnen völlig egal. Die beiden stellen eine echte Gefahr dar, nicht nur für diese Region.
Lukaschenko droht dem Westen, die russischen Gaslieferungen zu kappen, die durch Belarus laufen, während er gleichzeitig eine Flüchtlingswelle durch sein Land in Richtung EU organisiert. Wie sollte die EU auf diese ständigen Provokationen reagieren?
OV : Ich habe meine eigene Lektüre dieser Situation. Es ist unwahrscheinlich, dass Lukaschenko die durch Belarus laufende Gas-Pipeline kappt, die von Gazprom betrieben wird. Dies würde zu einem Konflikt mit Russland führen, das seine eigene Strategie zu diesem Thema fährt. Bereits im Oktober hatte Russland seine Gaslieferungen über diese Pipeline Yamal um 77 % gedrosselt, um gleichzeitig den Preis des Gases zu steigern und die neue Pipeline „Nord Stream 2“ zu fördern. Hier passiert nichts zufällig, es geht darum, den europäischen Markt zu manipulieren. Und somit verfoMigranten und militärischer Druck auf die Ukraine. Dazu kommt eine ständige Viktimisierung Russlands durch die interne und externe Propaganda – und schon wird die Strategie Putins deutlich. Eines ist allerdings völlig klar: In dieser Region geschieht nichts ohne die ausdrückliche Zustimmung Putins.
Olivier Védrine, vielen Dank für das Gespräch!
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