Recep Tayyip Erdogan legt wieder los

Vor lauter Trump, Johnson, Kim Jong-un, Ruhani und den anderen hätte man IHN schon fast wieder vergessen. Bevor es so weit kommt, zeigt der türkische Präsident, dass es auch zu diesem Club gehört.

Die vielen syrischen Flüchtlinge in den Lagern entlang der syrischen Grenze sind eine 1a-Handesware für Erdogan. Foto: Henry Ridgewell / Voice of America / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Bevor irgendjemand auf die irrige Idee kommen könnte, dass es in der Türkei unter Alleinherrscher Recep Tayyip Erdogan etwas ruhiger werden könnte, ja, dass nach der Wahl des oppositionellen Ekrem Imamoglu (CHP) zum Bürgermeister von Istanbul (nach der unglaublichen Annullierung des ersten Wahlgangs im zweiten Anlauf gewählt) sogar etwas Demokratie in der Türkei einziehen könnte, hat sich Erdogan aus der Sommerfrische zurückgemeldet. Und macht natürlich da weiter, wo er vorher aufgehört hatte. Doch bevor er nun die EU erneut mit einer Drohung ansprach, räumte er erst wieder einmal im eigenen Land auf.

Erst enthob er freihändig über sein Innenministerium im Südosten des Landes, in dem es eine starken kurdischen Bevölkerungsanteil gibt, die gewählten Bürgermeister in den Provinzhauptstädten Städten Diyarbakir, Mardin und Van ihres Amtes (alle drei sind Mitglieder der HDP, der Erdogan vorwirft, der „verlängerte Arm“ der PKK zu sein), um diese durch von ihm bestimmte und politisch genehmere Nachfolger zu ersetzen. Den des Amtes enthobenen Bürgermeistern hatte er vorgeworfen, Mitglied einer Terrororganisation zu sein und „Terrorpropaganda“ verbreitet zu haben – der aktuell beliebteste Vorwurf der türkischen Justiz gegen alle unliebsamen Mitbürger und Mitbürgerinnen, für die es lange Gefängnisstrafen gibt.

Dann traf es die Chefin der Istanbuler CHP, also der Partei des neuen Bürgermeisters. Canan Kaftancioglu wurde unter dem Vorwurf der „Terrorpropaganda“ und der Präsidentenbeleidigung zu 9 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt – die „Strafe“ Erdogans für den politischen Verlust der so wichtigen Metropole Istanbul. Die Verurteilung erfolgte aufgrund von Twitter-Nachrichten aus den Jahren 2012 bis 2017 – offenbar musste man lange suchen, bevor man Kaftancioglu an den Karren fahren konnte. Ansonsten läuft wieder eine Welle dieser Farce-Prozesse, mit denen Erdogan seine Opposition in Schach zu halten versucht. Business as usual am Bosporus.

Erst das eigene Volk verängstigen, dann der EU drohen. - Nachdem er somit sein eigenes Volk wieder in Angst und Schrecken versetzt hatte, wandte er sich wieder einmal an die EU. Er doht der EU, die Grenzen nach Europa für Flüchtlinge aufzumachen. Dass diese Drohung in der EU immer zieht, das weiß er. Vor lauter Angst vor Flüchtlingen kooperiert die EU mit jedem Tyrannen oder Diktator, der ihr verspricht, Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa zu stoppen. Dafür gibt es Geld, Waffen, Geheimdienst-Technologie und eben alles, was der moderne Diktator eben so braucht, um sein Volk zu unterdrücken.

Dafür, dass Erdogan bislang die Grenzen zur EU dicht hält, hat er sechs Milliarden Euro versprochen bekommen, von denen der größte Teil bereits geflossen ist. Der Deal sieht eine Art „Reinwaschen“ der Flüchtlinge vor – nicht registrierte und aus der Türkei illegal eingereiste Flüchtlinge werden wieder in die Türkei zurückgeschickt und im Gegenzug darf ein ordentlich registrierter Flüchtling in die EU kommen. Dieses Programm griff bisher für nur wenig Hunderte Flüchtlinge.

Niemand hat mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen. - Allerdings ist die Türkei das Land, das mit 3,6 Millionen Syrern die meisten Kriegsflüchtlinge aus dem völlig zerstörten Land aufgenommen hat, das in den letzten Jahren den Islamischen Staat, den Diktator Al-Assad, die Russen, die Amerikaner, die Briten, die Franzosen und die Türken über sich hat ergehen lassen müssen. Als Anrainer Syriens war die Türkei für viele syrische Flüchtlinge die einzige Rettung. Die Zustände in den Lagern, für die ein Teil des europäischen Gelds bestimmt war, sind nach Auskunft humanitärer Organisationen katastrophal. Aber immerhin, während andere nur redeten und sehr viel Geld im Krieg gegen die Flüchtlinge ausgaben, nahm die Türkei sie auf. Und heute dienen diese syrischen Flüchtlinge als „Handelsware“ für sein Geschacher mit der EU, die sicherlich auch dieses Mal wieder bereitwillig zahlen wird, zumal in letzter Zeit wieder mehr Flüchtlinge über die Ägäis in Griechenland ankommen, wo die Aufnahmekapazitäten mehr als ausgeschöpft sind. Alleine im letzten Monaten kamen über 8000 Flüchtlinge aus der Türkei auf die kleinen griechischen Inseln vor der türkischen Küste, die von Griechenland nicht mehr aufgenommen werden können. Auf den nahe der türkischen Küste liegenden Inseln Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos sind die Lager hoffnungslos überfüllt.

Griechenland ist dabei in einer vergleichbaren Situation wie Italien – die EU zuckt angesichts der Flüchtlingswellen nur mit den Schultern, die Visegrad-Staaten machen jede europäische Lösung unmöglich und das ist vielen anderen EU-Ländern auch ganz Recht, denn dort jammern die jeweiligen Rechtsextremen und Ultranationalisten, dass „das Boot voll sei“. Erdogans Ankündigung, im Falle des Ausbleibens weiterer europäischer Hilfen eben die Grenzen für Flüchtlinge in Richtung Europa zu öffnen, ist eine Bedrohung Griechenlands, aber auch des armen Bulgariens. Und natürlich beginnt bei den Rechtsextremen in ganz Europa wieder das große Zittern vor der „Islamisierung Europas“, vom „Volksaustausch“ und ähnlichem Blödsinn.

Die EU wird zahlen, wie immer. - Folglich wird sich die EU zunächst etwas zieren, dann aber wieder das Portemonnaie öffnen, und Erdogan mehr oder weniger das geben, was er will. Offenbar versteht die europäische Politik nicht den Zusammenhang zwischen der Finanzierung diktatorischer Regimes und der Tatsache, dass Menschen eben, unter anderem, vor diesen diktatorischen Systemen flüchten. Ob es Staaten wie Libyen, Eritrea, der Sudan, Somalia oder die Türkei sind – jeder europäische Euro für diese Regimes sorgt dafür, dass sich noch mehr Menschen auf den Weg nach Europa aufmachen.

Also wird Recep Tayyip Erdogan auch dieses Mal wieder die EU am Nasenring durch die Manege führen, was ihm wie beim letzten Mal (als ihm Angela Merkel eine Woche vor den Wahlen die gute Nachricht der sechs Milliarden „Unterstützung“ persönlich nach Ankara überbrachte, woraufhin Erdogan noch einmal in den Umfragen zulegte und dann deutlich gewann) wieder neue Wahlerfolge bringen wird und ihm die „Rechtfertigung“ bietet, weiter sein undemokratisches Unwesen zu treiben und die Kurden (die übrigens die einzigen waren, die den IS wirksam bekämpft und am Ende besiegt haben) weiter zu unterdrücken und zu bekriegen.

Die EU, unter dem Vorwand Flüchtlinge von unseren reich gedeckten Tischen fernhalten zu wollen, gehört inzwischen selbst zu den Gründen, die diese Migrationsbewegungen auslösen. Nein, die EU führt keinen „Krieg gegen die Schlepper“, sondern gemeinsam mit den Diktatoren Afrikas einen Krieg gegen die Ärmsten in Afrika. Eine Schande.

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