Republik Europa 2045

Warum Europa eine Republik werden muss! – Ulrike Guérot hat eine politische Utopie in die Welt gesetzt. Endlich.

Mit ihrem Buch will Ulrike Guérot neue Wege für Europa aufzeigen. Lesenswert. Foto: Verlag

(Von Jo Berlien) Das Brüssel-Europa hat sich überlebt. Das Europa der Nationalstaaten hat sich überlebt. Europa muss eine Republik werden: als „ein Geflecht aus regionalen Einheiten und Metropolen, die global denken“, dezentral, demokratisch, sozial, wie Ulrike Guérot in ihrem Buch Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie schreibt.

Europa wird erst sein, wenn du in Straßburg lebst, aber genauso gut in Offenburg zum Arzt gehen kannst. Europa ist so lange nicht Europa, wenn du am Jahresende je eine Steuererklärung für das deutsche und französische Finanzamt machen musst. Europa ist nicht Europa, so lange Europa keine Steuerunion ist; so lange es keine europäische Kranken- und Arbeitslosenversicherung gibt. Europa, das ist bis heute nichts weiter als freier Warenfluss und eine gute Idee, die von Brüssel aus schlecht und teuer verwaltet wird.

Das neue republikanische Europa hingegen wird keine von Brüssel und Straßburg aus gelenkte zentralistische Föderation sein, und sie wird auch nicht als die Vereinigten Staaten von Europa firmieren. Es wird keine Rückkehr zum Nationalismus geben. Eine Republik Europa wird auf ihrem Weg die Nationalstaaten überwinden. Eine Republik Europa wird auch nicht dem Separatismus und dem ausgrenzenden, abschottenden Provinzialismus der Regionalisten folgen.

Unter den vielen Büchern, die derzeit die europäische Idee verteidigen – etwa Die gute Regierung, Pierre Rosanvallons im September auf Deutsch erschienene Überlegung für eine demokratische Revolution – ist Ulrike Guérots politische Utopie für ein freies und soziales Europa das Wichtigste. In einer an Visionen und Utopien armen Zeit, in der – durch die Präsidentschaftswahlen in den USA verschärft und zugespitzt – Untergangs- und Zerfallsszenarien populär sind; in einer Zeit, in der angesichts der Radikalisierung der Politik manch einer bereits Weimar heraufziehen sieht, auch weil die Herrscher sich in Appeasement gefallen: Barack Obama, Prototyp des Friedens-Präsidenten, nimmt Donald Trump, Prototyp des Aggressors, ein ums andere Mal in Schutz. Wird schon alles nicht so schlimm komm! Wird schon nicht so heiß gegessen, dass wir, nicht wahr, das große Kotzen kriegen. Nein, in Zeiten wie diesen braucht es dringend diese Utopie: ein Szenario, wie es doch noch gut aus- und weitergehen kann in Europa.

Die Idee ist, wie jede gute Idee, von bestechender Einfachheit. Europa wird Republik. Weil in 2000 Jahren politischer Ideengeschichte die Republik sich als die beste Staatsform erwiesen hat. „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate“, befand Immanuel Kant, „sollte republikanisch sein.“ Das symbolische Gründungsdatum steht bereits fest. Der 8. Mai 2045 wird der Tag der Befreiung sein: der Befreiung von einem von nationalen Egoismen zerriebenen Kontinent. Und, nein, das neue Europa wird nicht von einem Konvent regiert, in den die ehemaligen Nationalstaaten Vertreter entsandt haben. Die Republik Europa wird sich, „ähnlich wie 1989, gleich einer schöpferischen Zerstörung eine verfassungsgebende Versammlung organisieren“. Der 8. Mail 2045 liegt so weit in der Zukunft, wie die Verträge von Maastricht zurückliegen, schreibt Ulrike Guérot. „Das gibt uns ungefähr eine Generation Zeit, um die Organisation dieser europäischen constituante als transgenerationelles Projekt zu begreifen.“

Spätestens jetzt fragen Sie sich: Wer ist Ulrike Guérot? Eine Träumerin in Tradition der Blumenkinder? Joan Baez, We shall over come, 1963, beim Marsch auf Washington, mit unnachahmlichem Pathos erstmals gesungen. – Ja, hämt nur, spottet und macht euch lustig. Ulrike Guérot ist Politikwissenschaftlerin und Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. 2013 veröffentlichte sie mit dem Schriftsteller Robert Menasse das „Manifest zur Gründung einer Europäischen Republik“; zu den Unterzeichnern gehörte auch Frankreichs populärster Ökonom Thomas Piketty und Ernst Ulrich von Weizsäcker.

Die üblichen Verdächtigen also, obendrein ein Schriftsteller – die Realpolitiker wackeln onkelhaft mit dem Kopf und fühlen sich wieder einmal bestätigt: Um Politik zu machen, ist es zumeist hinderlich, Politikwissenschaften studiert zu haben. Herauskommen dabei derlei Gedankenspiele!

Indessen wir unter uns den so genannten Realpolitiker entgegenhalten, dass wir genug haben von deren strategischen Denken, das über eine vierjährige Wahlperiode kaum hinausreicht, mäkeln bereits die Kollegen Journalisten. Zuletzt hat die FAZ die Idee von der Republik kurz und bündig als astreinen Sozialismus abgetan: als Variante eines europäischen Sozialstaats, unbezahlbar und nur dann zu haben, wenn die Europäer in den reichen Ländern deutliche Abstriche hinzunehmen bereit wären. Die FAZ zeigt sich belustigt vom romantischen Überschwang einer verheißungsvollen Zukunft, sie warnt generell vor Ideen, die als großer Wurf daherkommen, fragt, wie das denn bitte zusammengehen soll: deutscher Föderalismus und französischer Zentralismus? Und hält die Abschaffung der Nationalstaaten, na klar, für eine Illusion: 450 Jahre europäischer Politik-, Verfassungs- und Mentalitätsgeschichte „lassen sich nicht wegdefinieren“.

Es gab einmal Zeiten, da waren es sogar auch Journalisten, die Utopien ernsthaft verhandelten, vielleicht sogar damit sympathisierten und sie mutig weitertrugen. Eigentlich wäre dies heute wieder mehr denn je die Aufgabe von Journalisten. Es nicht zu tun und die Zukunft und eine Utopie im Lichte des politischen Tagesgeschäfts und am vermeintlich Machbaren zu messen ist, mit Verlaub, die Art von Arbeitsverweigerung und Denkfaulheit, die eine ideenarme und phantasielose Politik bis heute treu begleitet.

Und während diese Politik zur Zeit ihren vielleicht letzten Kampf gegen eine Marginalisierung der Europäischen Union durch die Nationalisten kämpft, sind – und das ist die gute Nachricht – die Jungen bereits unterwegs in die Europäische Republik. Ulrike Guérot beschreibt sehr anschaulich, wie sich die junge Generation von dem institutionellen Europa abgewandt hat; wie wenig attraktiv es sein muss, Karriere bei der Europäischen Kommission zu machen. Europa, konstatiert sie, habe seine Jugend verloren, gerade auch die jungen Kreativen.

Die Jugend organsiert sich selbst und schafft sich ein Europa nach eigener Vorstellung: „Die buzzwords für ihren Stil und ihre Konzepte sind Gründerszene und post-party, Partizipation und activism, soziales Engagement und soziales Design. (…) Es ist eine gut ausgebildete, oft dreisprachige Jugend, die Couchsurfing macht, anstatt auf den BMW zu sparen, die Jobs hat und nicht zwingend eine Festanstellung sucht. (…) Ihre Demokratie-Arenen sind die Art-Biennalen, Festivals, Theaterbühnen, Literaturfestivals oder Kunsthallen von Odessa über Wien bis Belgrad und Amsterdam, mehr als die Parlamente, egal ob national oder europäisch.“

Auch dieses Bild einer stillen Gegenbewegung mag ein gestählter Polit-Manager kalt weglächeln. Soll er halt. Wir wissen es heute schon besser. Wir sehen uns am 8. Mai 2045. Wir werden steinalt sein. Und uns wieder jung fühlen und irgendwie europäisch, ohne genau zu wissen, was das eigentlich sein soll, aber darum geht es ja auch nicht.

Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie, Diez-Verlag, Bonn, 308 Seiten, 18 Euro

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