Requiem für ein Hohes Haus (4)

Der vierte Teil meines Abgesangs auf das Europaparlament. Wieder treffen sich die Parlamentarier in ihrem weiten Rund zu Straßburg ohne mich. Dank der scharfen Presseabteilung des Hohen Hauses bleiben deren Bewohner unter sich. Aber es gibt ja noch die fotografischen Zeugnisse meiner Präsenz aus den vergangenen zehn Jahren.

Nichts ist scharf auf diesem Bild aus dem Plenarsaal des Europäischen Parlaments. Das liegt aber vor allem an der Idee des Fotografen, zwei unterschiedliche Ebenen gemeinsam in ein Foto zu zwingen. Doch vielleicht lässt sich gerade an diesem misslungenen Foto klarmachen, wozu ein Parlament überhaupt einen Sitzungssaal hat. Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Diese Serie mit Fotos aus dem Inneren des Parlamentes dient ja eigentlich nur der Überbrückung, solange nämlich, bis ich wieder Zugang zur den aktuellen Sitzungen haben werde. Aber vielleicht lässt sich diese Pause von der Gegenwart nutzen, mithilfe der Bilder aus der Vergangenheit der Rolle unserer größten gemeinsam bestimmten Institution auf die Schliche zu kommen, könnte doch der Rückblick mehr über in die Funktionsweise von Politik in der Wahldemokratie verraten, als ein schneller Blick auf drängende Tagesereignisse.

Dieses vierte Bild der Serie ist im Plenarsaal aufgenommen, und zwar am 9. Mai vor zwei Jahren. Es war der Tag, an dem Bundeskanzler Scholz – manche unter uns mögen sich noch an ihn erinnern – dem Parlament einen Besuch abstattete. Immer wieder sind Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ins Straßburger Parlament gekommen, um ihren Respekt zu zollen gegenüber der einzigen direkt gewählten Institution der Europäer, ob Hollande und Merkel, Macron, Sanna Marin oder gar Viktor Orban. Ob sie alle tatsächlich großen Respekt vor dem Hohen Haus und seinen jeweils aktuellen Bewohnern hegen, ist Gott sei Dank nicht die Frage, der wir mit dem heutige Foto näher kommen wollen.

Aber welcher Frage dann? Dieses ziemlich missglückte Foto stellt höchstes die Frage nach seinem Inhalt, der ohne eine Erläuterung kaum zu entschlüsseln sein dürfte. Denn allzu viel ist nicht darauf ja nicht zu sehen, zumindest nicht in gewohnter Schärfe.

Das Bild besteht offensichtlich aus zwei Bildern, oder wohlwollend gesagt: es vereint zwei Ebenen miteinander. Einmal schaut man im oberen Hintergrund in den Plenarsaal, wo inmitten des Halbrunds aus den Sitzen der Abgeordneten das Rednerpult steht, von dem aus der Bundeskanzler seine Rede hielt. Da hatten auch die anderen Spitzenpolitiker gestanden, die zu diesen rund zweistündigen Rede- und Antwortsitzungen eingeladen worden waren. „Was Europa ausmacht“ heißt die Veranstaltungsreihe, die immer nach demselben Schema verläuft: Der halbstündigen Rede folgt eine Antwortrunde von Vertretern aus jeder Fraktion, dann darf abschließend der Gast noch einmal antworten. Meist drehen sich die Themen um die globalen aktuellen Herausforderungen und die Rolle, die die Union darin einnehmen sollte und kann. Und meist enden die Reden mit der Beschwörung der europäischen Einigkeit, die diesen Kontinent erst stark mache.

Im Vordergrund des Bildes, das heißt im unteren Teil des Fotos, ist wiederum ein handschriftlich bekritzeltes Papier zu sehen. Es handelt sich dabei um die Übersicht der Tagesordnung für diesen Sitzungstag. Je nach Umfang sind das bis zu zehn zusammengeheftete Kopierblätter. Die Vorderseite, deren oberes Ende nun auf dem Foto zu sehen ist, hat der Autor und Fotograf dazu genutzt, sich seine Notizen über die Rede und die Antworten zu machen. Ein Hinweis in eigener Sache: Die mangelnde Schärfe des Fotos ändert an der Lesbarkeit der Aufzeichnungen kaum etwas, denn wer, außer ihrem Inhaber, könnte diese Krakelschrift schon entziffern?

Aber auch dieser Einwand ändert nichts daran: Würde man so ein Bild vernünftig machen wollen, dann wäre wenigstens eine der beiden Ebenen, die darauf jetzt zu sehen sind, halbwegs scharf geworden: Entweder hätte man den Kanzler da unten am Rednerpult erkennen können, oder der Betrachter hätte wenigstens die Sauklaue des Zuhörers, der auch der Fotograf ist, in ganzer Pracht bewundern können. Mit einer eindeutigen Fokussierung auf eine der beiden Ebenen wäre auch die Aussage des Fotos klarer geworden.

Wenn die Kanzlerrede im Fokus stehen sollte, wäre jetzt Olaf Scholz scharf. Manche mögen nun noch nachträglich unken, dass die Unschärfe auch daran liege, dass an diesem Kanzler ja sowieso nichts klar und deutlich war. Doch würde diese Aussage ausgerechnet dieser Rede am Europatag des Jahres 2023 nicht gerecht. Denn Bundeskanzler Scholz hatte an jenem Morgen den Abgeordneten durchaus etwas mitzuteilen, als er sie an die Grenzen des Einflusses von Europa in der Welt erinnerte und zu einer realistischen Einschätzung der globalen Rolle der EU mit ihrer Einwohnerschaft von gerade einmal fünf Prozent der Weltbevölkerung aufrief. Das klang im Gegensatz zu den wichtigtuerischen Reden so mancher europäischen Gernegroßen klar und deutlich. Kanzlerschärfe wäre auf dem Foto also durchaus angebracht gewesen, wenn diese Rede im Fokus ihrer fotografischen Abbildung hätte stehen sollen.

Oder der Fokus wäre auf das Stück Papier eingestellt worden. Dann stünden die niedergeschriebenen Eindrücke und Reflexionen des Zuhörers der Rede und Widerrede im Mittelpunkt, und damit die Fragen: Was erschien ihm wichtig? Welche Einschätzungen hat er sich notiert? Sind es die wenigen Sätze, die da jetzt stehen, die tatsächlich die ganze folgende Debatte wiedergeben, oder sind jetzt nur jene Einlassungen übrig gebleiben, die ihm umgehend einleuchteten? Oder die ihn, wenn nicht gleich erzürnten, so doch hämisch schmunzeln ließen? Was von alle dem würde ein journalistischer Zuhörer und Beobachter schließlich seinen Lesern oder Zuschauern mitteilen? Was hingegen fiele in der medialen Bearbeitung komplett unter den Tisch?

Das bisschen, was man auf dem Zettel nun noch hätte lesen können, wenn das Foto denn darauf scharf eingestellt worden wäre, gibt ein paar wenige Aufschlüsse. Ein Hinweis auf die Rede einer FDP-Abgeordneten, die dem Kanzler Verschlafenheit vorwirft, ist da zu lesen: „Ampel in Europa, Opposition in der Regierung“. Ein österreichischer rechtspopulistischer Abgeordnete diagnoztisierte laut Mitschrift eine „anti-deutsche Stimmung“, und die Erzkonservativen eine „Tyrannei der Mehrheit“. Der „Doppelwumms“ hat es ganz oben auf meine vollgekritzelte Titelseite der Tagesordnung gebracht: „EU ist geteilter als je zuvor“, steht da als Quintessenz einer Einlassung eines Abgeordneten über die wirtschaftliche Unwucht, die entsteht, wenn sich diejenigen, die es sich leisten können, ihre Wirtschaft mit Milliardensummen aufpäppeln, während die anderen hinten runterfielen. „Deutsche wollen alles und jeden retten, Klima und Migranten, sie leiden am Helfersyndrom“, wird ein Redner zitiert, ohne dass da nun noch stünde, wer denn der Urheber dieser psychologischen Expertise war.

Eine klare Fokussierung des Fotografen auf entweder den Vorder- oder den Hintergrund hätten den Fokus auf das eine, die konkrete Rede, oder das andere, die allgemeine Reaktion, gerichtet. Jetzt aber sind beide Ebenen in völliger Unschärfe vereint. Könnte uns diese unbestimmte Komplettschwammigkeit trotzdem etwas mitteilen? Wagen wir den großen Wurf: Auf dem Bild erkennt man den wahren Sinn von Parlamentssitzungen. Gerade durch die Unbestimmtheit der Fokussierung sieht man endlich, worum es wirklich geht, wenn sich ein Parlament versammelt: nämlich um das Versammeln an sich.

Das Absitzen von Sitzungen ist ja nur eine unter vielen Aufgaben der Parlamentarier im Parlament. Ausschüsse, Fachgremien, Fraktionssitzungen, formale und informelle Treffen – wer sich das ganze Programm, aus dem sich das Arbeitsleben der Abgeordneten bei der Suche nach einer Entscheidungsfindung einmal antun will, der sollte sich einfach die TV-Serie „Parlament“ anschauen. Der wird erkennen, dass im ganzen Hohen Haus es einen Ort gibt, worin definitiv keine Entscheidungsfindung mehr stattfindet, und zwar ausgerechnet in seiner Herzkammer, dem Sitzungssaal. Dort wird lediglich wortreich vollzogen, was vorab schon lange anderswo entschieden wurde. Die heftigen Debatten, die darum im Plenarsaal noch geführt werden, haben keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung.

Interessant wäre es zu erfahren, wann es das letzte Mal in einem Plenarsaal eines Parlamentes passiert ist, dass sich ein Abgeordneter oder Redegast von einem der Argumente der anderen Seite hat überzeugen lassen. Der Zuhörer wiederum ertappt sich so manches Mal dabei, dass der Redner recht hat, der gerade spricht, was ja auch die Absicht der Rede entspräche, die ja nicht darin liegt, recht zu haben, sondern Recht zu bekommen.

In diesem Sinne liegt der Sinn der Sitzung in der Sitzung selbst. Das Plenum ist der Showroom der repräsentativen Demokratie. Hierin soll gezeigt werden, dass dort tatsächlich Volksvertreter sitzen, die entsprechend der Wahlergebnisse zusammengesetzt sind und ihre Wahlversprechen unerbittlich verfolgen. Ein harter Schlagabtausch der gefestigten Positionen ist das Wesen der Sitzungen. Nur das eine, wofür diese Säle eigentlich stehen, findet darin nicht statt: Hier ist nicht der Ort der demokratischen Debatte – einer Debatte also, bei der man das Gefühl hätte, dass die gehaltenen Reden einen Einfluss auf die Meinungsbildung der zuhörenden Parlamentarier hätten.

Ob es jemals, als ich bei diesen als Debatten bezeichneten Schlagabtäuschen noch zugegen sein konnte, passiert ist, dass ein Abgeordneter von den Argumenten eines Kollegen dazu gebracht worden ist, von seiner vorherigen Position Abstand zu nehmen? Wäre es geschehen, würde ich behaupten dürfen, bei einer Sternstunde des Parlamentarismus dabei gewesen zu sein. Allerdings ist es wohl fast unmöglich, den Nachweis ihres Eintreffens zu führen. Es sind ja nur Sternschnuppen des Geistes, die ungesehen von den Kollegen im Plenarsaal und den Beobachtern auf den Tribünen ihre heimliche Bahn zögen. Und es bliebe dann immer noch die Frage, welche Leistung in solchen Sternstunden höher zu bewerten ist: die, jemanden überzeugt zu haben, oder die, sich überzeugt haben zu lassen?

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