Rousseau trifft auf Goethe: Gelbwesten aus deutscher Sicht
Julie Hamann forscht über Protest in Frankreich. Eine Forscherin aus Jugendprägung, mit ihren Eltern verbrachte sie in den 80er Jahre viel Zeit auf Demos. Jetzt macht sie uns verständlich, warum Franzosen so anders streiken und demonstrieren als Deutsche.
(Von Michael Magercord) – Warum haben bei doch ziemlich ähnlicher sozialer Gemengelage Gelbe Westen in Deutschland kaum eine Chance, während sich Frankreichs Verkehrskreisel seit bald drei Monaten im samstäglichen Aufruhr befinden?
So sind sie halt, die Franzosen, streit- und streiklustig und Raufbolde obendrein, die unbeugsamen Gallier lassen grüßen – diese simple Erklärungsformel gilt für die deutsche Protestforscherin Julie Hamann nicht. Die Mentalität ist für die Spezialistin für soziale Bewegungen in Frankreich bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin kein hinreichender Faktor zur Deutung der so unterschiedlichen Demonstrationskulturen beiderseits des Rheins: Nicht Asterix ist schuld, sondern fundamentale strukturelle und systemische Unterschiede zwischen beiden Ländern.
Einmal sind die Gewerkschaften in Frankreich sehr schwach. Nur 8 Prozent der Arbeitnehmer sind darin organisiert – der geringste Organisationsgrad in ganz Europa. Um dennoch wirkungsvoll zu sein, müssen ihre Aktionen besonders spürbar sein. Dazu kommt ihnen das Streikrecht zugute, denn anders als in Deutschland sind politische Streiks ausdrücklich erlaubt. Legt man dazu noch den grundsätzlich höheren Wert, den Franzosen laut Umfragen den sozialen Errungenschaften zumessen, zugrunde, erklärt sich schnell, dass etwa Renten- oder Arbeitsrechtsreformen von umfangreichen Arbeitsniederlegungen begleitet werden. So reibungslos jedenfalls wie sich in Deutschland gegen den Willen der Gewerkschaften das Rentenalter anheben ließ, kann das in Frankreich nicht geschehen.
Zudem sorgt die klassische recht-links Spaltung der politischen Landschaft für eine hohe Politisierung jeder gesellschaftlichen Debatte. Kompromisse finden darin wenig Platz, wozu auch das personengebundene Wahlsystem und die starke Stellung des Präsidenten beiträgt. Oft sind Streiks oder Demonstrationen der einzige Weg, sich als Opposition Gehör und Beachtung zu verschaffen. Mit den Gelbwesten hat sich dieses Prinzip vorbei an den Gewerkschaften und Parteien eine neue Form gesucht, die aber eben auch keine echte hierarchische Struktur herausbilden konnte. Woran liegt das? Julie Hamann hat eine erste Vermutung: Das einzig wirklich Neue an dieser Bewegung ist die Bedeutung der sozialen Netzwerke – ob nun deren anarchisch-algorithmische Struktur also dafür sorgt, dass sich keine zielgerichteten Protestabläufe mehr einstellen? Da stehen die Protestforschungen noch am Anfang.
Soweit gesichert scheint immerhin, dass sich die Gründe für das Aufkommen der Gelbwesten-Bewegung einerseits institutionell verorten lassen, und anderseits entsprang auch der Unmut nicht aus dem gesellschaftlichen Nichts: Einmal mehr zeigen Umfragen, dass eine Sorge die Franzosen seit Jahrzehnten ganz besonders umtreibt: Nein, nicht die Arbeitslosigkeit und auch nicht Terror belegen dauerhaft Platz Eins der Besorgnisliste, sondern die Angst vor einer schwindenden Kaufkraft. Ein Blick auf die Statistik beleuchtet die Ursache: Die Fixkosten eines durchschnittlichen Haushaltes lagen 1959 noch bei 12, heute schon bei 30 Prozent, und bei unteren Einkommensschichten sogar bis zu 60 Prozent. Da bleibt in einer Konsumgesellschaft nicht allzu viel Geld übrig für eine zumindest als souverän empfundene Konsumentscheidung.
Die Werte dieser Statistik unterscheiden sich übrigens kaum von jenen aus Deutschland, trotzdem spürt man dort eine große Ablehnung gegenüber den Gelbwesten. Warum sich so wenig auf den deutschen Straßen tut, dafür in Frankreich umso mehr, hat vielleicht einen viel tieferen Grund. Liegt es also doch an dem, was man schlechthin Mentalität nennt? Bilden sich selbst unterschiedliche institutionelle Systeme nicht gerade deshalb heraus, weil ihnen jeweils andere, kulturbedingte Reaktionsmuster auf staatliche Ansprüche zugrunde liegen?
Ein Blick auf die unterschiedlichen Denktraditionen hilft weiter. Julie Hamann referiert dazu auf Jean-Jacques Rousseau und seine Idee des „volonté générale“. Der Vordenker der Französischen Revolution formulierte ein allgemeines Widerstandsrecht gegen von der politischen Mehrheit beschlossene Gesetze, sollten diese dem Gemeinwohl und dem Erhalt der politischen Körperschaft zuwiderlaufen. Wer aber spricht heutzutage für die Interessen der Allgemeinheit? Jeder, zumindest wenn man die fast übliche Einleitung zu politischen Statements wörtlich nimmt: „Die Franzosen denken meinen wollen…“ lautet die Formel, mit der dortzulande vor allem Politiker – aber auch so manche gelbbewestete Zeitgenossen – ihre Ansichten zum Besten geben.
Ob es von Rousseau einst so gemeint war? Für Deutschland könnte man jetzt Goethe ins Spiel bringen, hatte er doch als Student in seiner Straßburger staatsjuristischen Dissertation Rousseau noch zugestimmt. Die Greuel der Revolution aber widerten ihn an: Rousseau habe, so dann der Herr Geheimrat Goethe, „von dem geselligen Leben einen Ekelbegriff verbreitet, eine stille Einleitung zu jenen ungeheuren Weltveränderungen, in welchen alles Bestehende unterzugehen schien“. Widerstand und Protest in Deutschland also bitte immer nur in gesellschaftlich gut verdaulichen Portionen. Es mag es somit auch diesen entgegengesetzten Philosophien geschuldet sein, dass ähnliche Bedingungen in beiden Ländern doch so unterschiedliche Reaktionen hervorrufen.
Ja, die Tendenzen laufen tatsächlich parallel: Die soziale Spaltung ist in Deutschland sogar noch tiefer, und das Abwenden von traditionellen politischen Systemen vollzieht sich in beiden Ländern, wobei gleichzeitig die faktische Grundlage für konstruktive Debatten schwindet: 70 Prozent der Franzosen – glaubt man den Umfragen – glauben keiner Statistik, die von Regierungsstellen kommen. Noch ein Trend hält unvermindert an: die Gesellschaften beider großen, sich wandelnden Industrienationen zerbröseln in immer kleinere Schicksalsgemeinschaften. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land ist da nur eine von vielen, wenn auch die an den Wahlergebnissen am deutlichsten abzulesende Trennlinie.
Viele der äußeren Voraussetzungen sind in Deutschland und Frankreich gleich, und legt man nun die verschiedenen Denkweisen zugrunde, könnte man zum Schluss kommen, dass gerade in dem unterschiedlichen Umgang mit der gleichen Situation ein gemeinsames, in beiden Ländern stark verbreitetes Grundgefühl zum Ausdruck kommt. Eines, das Frankreich zu einer heillos aufgeregten, kämpferischen Haltung aufstachelt und in deutschen Landen wiederum zu einem erstaunlichen, fast gespenstigen Stillhalten führt. Es ist dieses diffuse Gefühl, welches der Straßburger Philosoph Jean-Luc Nancy vor einiger Zeit ausgerechnet im Deutschlandfunk in etwa so beschrieb: Da lebt in unseren Gesellschaften so manch Einer noch ziemlich komfortabel, doch gemeinsam ahnen wir, dass es in fast allen Bereichen – wirtschaftlich, sozial und ökologisch – nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher. Aber es fehlt bislang eine Idee, eine Vision, ein Ziel. Diese Gedankenstarre ist es also, die uns beiderseits des Rheins – immerhin – gemeinsam wäre.
Infos zur Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik – Programm Frankreich / deutsch-französische Beziehungen.
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