Schein und Sein

Gestern war Weltflüchtlingstag. Selten sind an einem einzigen Tag derart viele Krokodilstränen vergossen worden. Alle haben Mitleid mit den armen Flüchtlingen – gegen die man dennoch einen widerlichen Krieg führt.

Und was machen wir mit ihm? Totbomben? Im Mittelmeer ertränken? Auf dem Sklavenmarkt verkaufen? Egal, Hauptsache, er kommt nicht zu uns. Foto: SPC Amber Stephens / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Die Reden am gestrigen Weltflüchtlingstag waren bewegend. Die Mächtigen dieser Welt wiesen mit belegter Stimme darauf hin, dass es momentan weltweit 68,5 Millionen Flüchtlinge gibt, eine Zahl, die es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Doch während alle Redner sorgsam vermieden, auf die Gründe für diese Massenflucht einzugehen, waren sich alle einig, dass dieser Zustand entsetzlich und für die Betroffenen entwürdigend ist. Doch die Betroffenheit hat genau dort ihre Grenzen, wo man sich gegenüber diesen 68,5 Millionen Schicksalen solidarisch zeigen müsste – statt den Opfern der Ungerechtigkeiten dieser Welt zu helfen, führen wir lieber Krieg gegen diese Menschen. Das ist billiger und verhindert, dass wir am Ende etwas von unserem Wohlstand teilen müssten.

Doch diejenigen, die gestern so lautstark Solidarität und Menschlichkeit einforderten, sind auch diejenigen, die aus Europa eine Festung machen, Grenzzäune und –Mauern errichten, Despoten und Sklavenmärkte in Nord- und Ostafrika finanzieren, Tausende Menschen per Unterschrift am Schreibtisch zum Tod durch Ertrinken im Mittelmeer verurteilen. Der gestrige Weltflüchtlingstag mit seinen offiziellen Reden, das war ein wenig so, als hätten die Nazi-Oberen im Jahr 1943 mit belegter Stimme mehr Solidarität mit dem jüdischen Volk angemahnt.

Ob es die Europäische Union mit ihrer zynischen Politik in Afrika und an den Außengrenzen ist, ob es die Amerikaner sind, die Familien auseinanderreißen und Kinder in Käfige sperren – die Kluft zwischen dem Postulat nach mehr Menschlichkeit und den Realitäten ist unerträglich.

Dass am Weltflüchtlingstag niemand weiter auf die Gründe einging, die 68,5 Millionen Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen und sich auf der Suche nach ein wenig Sicherheit Gefahren für Leib und Leben aussetzen, ist wenig verwunderlich. Denn die Analyse der Fluchtursachen beinhaltet, dass man sich eingesteht, dass es unsere Welt, unsere Politik, unsere wirtschaftlichen Interessen sind, die Menschen zur Flucht treiben.

Da hilft es wenig, wenn sich schlaue westliche Politiker hinstellen und zunächst eine Unterscheidung in „Kriegsflüchtlinge“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ vornehmen. Im Grunde sind beide Kategorien nämlich dieselben. „Kriegsflüchtlinge“, das sind Menschen, denen wir (ja, tatsächlich: wir. Die „Allianz des guten Willens“, die gemeinsam mit den USA Bombenangriffe in Syrien und anderswo fliegt) Bomben auf die Häuser werfen und sie damit zwingen, ihre von uns (und anderen) zerbombten Häuser zu verlassen. Warum wir nicht einfach mit den Bombardements aufhören? Na, weil diese bei uns Arbeitsplätze sichern, in den USA, in Deutschland, in Frankreich. Gäbe es keine solchen Kriege mehr, gäbe es mehr Arbeitslose bei uns. Also werfen wir Bomben. Und beklagen uns bitter darüber, dass die Menschen, die wir ausbomben, nicht diskret genug sind, einfach daheim auf den Tod zu warten, statt frecherweise an unsere Tür zu klopfen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Die „Wirtschaftsflüchtlinge“, bei denen sich fast alle einig sind, dass diese gierige Zeitgenossen sind, die nur an unseren fetten Töpfen mitessen wollen, müssen natürlich ferngehalten werden. Dabei sind diese „Wirtschaftsflüchtlinge“ genauso unsere Opfer wie die „Kriegsflüchtlinge“. Speziell die „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus Afrika kommen aus Ländern, deren Reichtümer seit den Kolonialzeiten (die faktisch nie vorbei waren) von multinationalen Konzernen ausgeplündert werden, die hervorragend mit lokalen Despoten kooperieren und dafür sorgen, dass die Menschen nicht von den Reichtümern ihrer Länder profitieren können. Doch die Armut in den Ländern Afrikas, der Hunger, die Bürgerkriege, die Korruption – das sind die Gründe, die Menschen zur Flucht veranlassen.

Unsere „Entwicklungshilfe“, die zumeist darin besteht, den lokalen Despoten die Finanzmittel und Waffen zur Verfügung zu stellen, mit denen sie ihre Völker weiter unterdrücken können, nützt wenig. Im Gegenteil, in vielen Fällen zementiert sie den Status Quo und sorgt dafür, dass Fluchtgründe nicht abgebaut, sondern festgeschrieben werden.

Europa verwandelt sich gerade unter dem Beifall populistischer Schwachköpfe in eine Festung, in der alle Prinzipien des europäischen Humanismus vergewaltigt werden. Von den Visegrad-Staaten über Österreich, Bayern, Frankreich bis nach Großbritannien, überall werden die Menschenrechte der Flüchtlinge mit Füssen getreten. Und da kommt wieder die Frage nach der Verantwortung ins Spiel – die Politik, die zu diesen Ergebnissen führt, wird von Menschen gemacht, die wir dazu ermächtigt haben. Die Zehntausende Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrunken sind, mussten sterben, weil wir es erlaubt haben, dass Schreibtischtäter dieses in unserem Namen entscheiden.

Der Weltflüchtlingstag war also insgesamt eine reine Peinlichkeit. Und wer möchte, dass die Welt nicht zu einem einzigen, gigantischen KZ wird, der sollte sich bei den nächsten Wahlen gut überlegen, wem er seine Stimme gibt. Denn ändern wird sich nur etwas, wenn wir selbst die Veränderung in die Hand nehmen. Die zynischen Staatenlenker dieser Welt haben keinerlei Interesse daran, dass sich etwas am Schicksal dieser 68,5 Millionen Flüchtlinge ändert. Ein guter Grund, diese Staatenlenker in den Ruhestand zu schicken.

2 Kommentare zu Schein und Sein

  1. Herr Litmann, Sie sprechen mit Fug und Recht ein wichtiges Thema an. Was würden Sie vorschlagen? Wie lösen?

    • Eurojournalist(e) // 26. Juni 2018 um 12:26 // Antworten

      So blöd es klingt – mehr Europa. Wir brauchen dringend eine grundlegende Reform der Institutionen und eine direkte Europa-Demokratie, andernfalls wird es schwer bis unmöglich, eine Identifikation mit Europa zu erzeugen. 2019 könnte ein ziemlich wichtiges Jahr werden…

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