Schengen oder nicht Schengen, das ist hier die Frage
Horst Seehofer ist jede Woche für eine Überraschung gut. Man könnte das, was er gerade auf die Beine stellt, aber auch „Schlingerkurs“ nennen. Nun verschärft er die Grenzkontrollen.
(KL) – Theoretisch leben wir in Europa im „Schengen-Raum“, also in diesem Konstrukt der Freiheit und der Freizügigkeit – für Personen, Waren, Dienstleistungen. Soweit die Theorie. In der Praxis sieht es anders aus. Wenige Tage nach seinem mutigen Entschluss, dass Deutschland künftig ein Viertel der in Italien ankommenden Bootsflüchtlinge aufnehmen wird, verfällt Horst Seehofer schon wieder in alte Reflexe. Und verschärft die Kontrollen an der österreichischen Grenze. Mit endlos verlängerten Ausnahmeregelungen, die längst zur Normalität geworden sind, entwickelt sich der „Schengen-Raum“ wieder in das Europa der Nationalstaaten.
Wir sind nicht mehr im Jahr 2015. Das, was 2015 an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland passierte, als Zehntausende Flüchtlinge mehr oder weniger unkontrolliert nach Deutschland strömten, erforderte damals diese Ausnahmeregelung vom gegenseitigen Versprechen, nicht mehr an der Grenze zu kontrollieren. Doch nicht nur, dass diese Ausnahmeregelung permanent verlängert wird, dazu klingen die Sprüche des Innenministers wieder so, als wolle er nach Thüringen signalisieren, dass man statt AfD auch die Christdemokraten wählen kann. Der Satz „Die Sicherheit fängt an den Grenzen an“, der hätte auch von Alexander Gauland kommen können.
Das Problem, das Seehofer mit dem verstärkten Einsatz der „Schleierfahndung“ lösen will, ist die so genannte Sekundärimmigration. Sekundärmigranten sind solche, die aus einem in ein anderes EU-Land abwandern, obwohl sie das aufgrund des Dublin-Abkommens eigentlich nur dürfen, wenn ihnen das ausdrücklich genehmigt wird. Und um die aufzuspüren, wird es künftig an der deutsch-österreichischen Grenze mehr Schleierfahndungen geben, was nichts anderes bedeutet als anlass- oder verdachtsunabhängige Kontrollen.
Aber nicht genug – diese Schleierfahndungen soll es künftig auch an allen anderen deutschen Grenzen geben. Und Horst Seehofer, unser wackerer Heimatminister, gibt die Wacht am Rhein: „Wir haben alle Grenzen unseres Landes im Blick!“ Na dann…
Kritik kam von den Grünen, die diese Maßnahme für „ein gefährliches anti-europäisches Signal“ halten. Und das stimmt natürlich, zu einem Zeitpunkt, zu dem viele europäische Länder wieder ihre Grenzkontrollen eingeführt haben, die eben ohne großen Aufwand immer weiter verlängert werden. Dabei war die Möglichkeit, punktuell doch kontrollieren zu können, als Ausnahme für besondere Bedrohungssituationen gedacht, beispielsweise nach Terroranschlägen. Ähnlich klang es auch bei der SPD, die hierzu gerne eine Abstimmung mit den europäischen Partnern gesehen hätte.
So bleibt dennoch die Feststellung, dass „Schengen“ immer weiter ausgehöhlt wird und der Traum von den „Vereinigten Staaten von Europa“ in immer weitere Ferne rückt. Auch zwischen Frankreich und Deutschland wurde lange aufgrund des Ausnahmezustands in Frankreich kontrolliert – wobei die Fahndungserfolge wohl eher bescheiden ausfielen. Europa wird schon bald eine Antwort auf eine zentrale Frage geben müssen – wollen wir diese „Vereinigten Staaten von Europa“ oder das „Europa der Nationalstaaten“. Das zweite Modell wurde zwei Jahrtausende ziemlich erfolglos praktiziert, mit Kriegen, Mord und Totschlag. Viel verlieren könnte man eigentlich nicht, würde man stattdessen einmal die erste Option testen. Doch mit Maßnahmen wie der Verschärfung der Grenzkontrollen erreicht unser Heimatminister das Gegenteil – er schafft, zusammen mit seinen Kollegen, Stück für Stück die Errungenschaften von Schengen ab. Ob das wirklich in unserem Interesse liegt?
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