Schwer zu verstehen, das alles…

Vor über einem Jahr wurden in Europa die ersten Grenzen geschlossen und das Leben auf null gefahren. Ein Jahr später, bei einer ungleich höheren Inzidenz, soll alles gelockert werden.

Deutsch-holländische Grenze - "klar dürft ihr 'rüber - aber tut's nicht"... Foto: MartinD / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Nehmen wir einmal das Beispiel der Niederlande. Dort liegt die Inzidenz aktuell bei über 300 und als Reaktion darauf – werden die sanitären Maßnahmen gelockert und teilweise sogar aufgehoben. Die nächtliche Ausgangssperre entfällt, Geschäfte und Terrassen dürfen wieder öffnen und das Land strebt nach „Normalität“. Die Niederlande sind dabei kein Einzelfall, in allen Ländern wird an „Öffnungs-Strategien“ gebastelt und niemand erinnert sich mehr daran, dass vor über einem Jahr bei einer Inzidenz von 50 ganze Länder geschlossen wurden. Haben wir nur den Cursor verschoben, gibt es neue Erkenntnisse oder gibt die Politik einfach der Vox Populi nach?

Natürlich haben alle die Nase gestrichen voll von den Einschränkungen, Maßnahmen, Verboten und Erlassen. Zumal diese niemand mehr versteht. Schauen wir nach Deutschland: 16 Bundesländer und 16 verschiedene Corona-Verordnungen, die teilweise nicht einmal innerhalb der einzelnen Länder durchsetzbar sind. Noch nie waren wir weiter von einer europäischen Lösung entfernt als heute, denn offenbar kommt keine Regierung in Europa auf die Idee, dass es vielleicht gar nicht so sinnvoll ist, wenn alle ihr eigenes Ding machen und dabei Maßnahmen ergreifen, die sich gegenseitig aufheben.

Blick zurück auf die Niederlande. Dort sorgt man sich, dass nach der Öffnung in den nächsten Tagen jede Menge Besucher aus Deutschland kommen, zum Einkaufen, zum Bummeln, für einen Latte Macchiato auf einer von der Frühlingssonne befluteten Terrasse. Verständlich. Wie lächerlich klingt es da, wenn der niederländische Justizminister Ferdinand Grapperhaus und der Innenminister von Nordrhein-Westfalen Herbert Reul die Bevölkerung in NRW „bitten“, doch möglichst nicht in die Niederlande zu fahren…

Selbstverständlich werden die Bürger aus NRW in die Niederlande fahren und dort einkaufen. Natürlich werden sie dabei das Virus im Gepäck haben und dieses entweder in den Niederlanden streuen oder aber das Virus aus den Niederlanden mit den Einkäufen zurück nach Deutschland bringen. Dieses Phänomen ist logisch und betrifft nicht etwa nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. In der EU leben rund 35 % aller Menschen in Grenzregionen und sind es gewohnt, ihr Leben grenzübergreifend zu organisieren. Man hat Freunde, Bekannte, Familie auf beiden Seiten der Grenze, man kauft dort ein, wo es günstiger ist und pflegt einen grenzüberschreitenden Lebensstil. Das ist genau das, was Europa mit der Personenfreizügigkeit und Schengen erreichen wollte. Und jetzt kommt als Ansage: „Ihr dürft ins Nachbarland. Aber bleibt bitte zuhause.“

Die lokalen und regionalen Lösungsansätze, die man seit über einem Jahr in ganz Europa praktiziert, funktionieren nicht. Nach einem Jahr könnte man das durchaus begriffen haben. Da ist es erstaunlich, mit welcher Hartnäckigkeit sämtliche europäischen Regierungen mit denjenigen Maßnahmen weitermachen, die sich seit so langer Zeit als erfolglos zeigen. Statt den Bürgern zu erzählen, dass die Grenzen offen sind und die Personenfreizügigkeit unangetastet bleibt, nur um die Menschen dann aufzufordern, diese Freizügigkeit nicht zu nutzen, wäre es vielleicht an der Zeit, einen gemeinsamen Ansatz auszuprobieren. Die gleichen Maßnahmen zum gleichen Zeitpunkt überall. Nicht die kommenden Sommerferien zum Hauptthema machen, sondern gemeinsam die Pandemie bekämpfen. Was ist daran eigentlich so schwer zu begreifen? Aber nach wie vor weigern sich die europäischen Regierungen, die europäische Idee für diese Pandemie einzuspannen.

Der neue, sanitäre Nationalismus wird für unseren Kontinent katastrophale Folgen haben. Und eines Tages wird uns die EU erklären müssen, warum sie bislang keinen ernstzunehmenden Ansatz für die Bekämpfung der Pandemie ausprobiert hat. „Die Gesundheit ist Sache der Mitgliedsstaaten“ wird als Erklärung nicht ausreichen. Bis dahin gilt schon bald: „Ihr dürft mehr oder weniger alles. Aber tut’s nicht.“

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