Selbst Schuld…

Zweimal hatten die Türken die Gelegenheit, ihren Sultan Recep Tayyip Erdogan zu stoppen. Beide Male haben sie ihn bei Wahlen gestärkt. Viel Spaß damit!

Die Türken wollen ihn, jetzt haben sie ihn. Und wem die Demokratie bei uns nicht gefällt, hat ab sofort das Traumziel Türkei. Und tschüss. Foto: Carlos Latuff / Wikimedia Commons / PD

(KL) – In unruhigen Zeiten sehnen sich die Menschen nach dem „starken Mann“. Dies ist der einzige nachvollziehbare Grund, warum ein Volk einen Politiker wählt und ihm einen Blankoscheck schreibt, obwohl dieser sein eigenes Volk verfolgt, wegsperrt und nach und nach die Menschenrechte aufhebt. Im Grunde ist die Situation der Türkei mit der des „Brexit“ vergleichbar – es gibt keinen vernünftigen Grund, seinem eigenen Land zu schaden und genau deshalb tut man es.

Die AKP-Anhänger können jubeln, sie haben offenbar etwas gewonnen, das sich unserer Wahrnehmung entzieht. Dabei lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Denn das, was seit einiger Zeit in der Türkei passiert, ist in den Grundzügen genau das, was in Großbritannien, in Katalonien, ja, selbst im Elsass passiert. Aus Angst vor einer vermeintlich drohenden Bedeutungslosigkeit in einer globalisierten und immer schwerer zu verstehenden Welt, suchen die Menschen ihr Heil in diesem fürchterlichen neuen Nationalismus, diesem „XXX first!“, dieser latenten Angst, man könne zu kurz kommen und müsse sich daher mit den Seinen am heimischen Tisch versammeln.

Diktatoren an sich sind eigentlich nichts Schlimmes. Sie werden es erst dadurch, dass ihre Völker ihnen die entsprechenden Mandate erteilen. Und demokratische Mandate haben sie alle, die Erdogan, Theresa May, Viktor Orban und wie sie alle heißen. Doch erst der Umstand, dass solche Leute demokratisch gewählt werden, macht sie gefährlich.

Die Wahlergebnisse in der Türkei, in Italien, in Österreich, in Ungarn, fast überall, bedeuten aber auch eine Abkehr vom Prinzip der Demokratie. Dort, wo (zumindest auf dem Papier) das Volk entscheidet, entscheidet ab sofort „der starke Mann“. Dies ist allerdings das Gegenteil von Demokratie. Erleben wir gerade das Ende eines Auslaufmodells?

Ganz offenbar ist die Entscheidung der Mehrheit nicht immer auch die richtige Entscheidung. Die letzten Wahlergebnisse quer durch Europa werfen die Frage auf, ob die Demokratie, so wie wir sie kennen, tatsächlich das richtige System in einer Welt ist, die mehr schlecht als recht versucht, die Folgen der Technologischen Revolution zu verinnerlichen, in einer Welt, die von religiös-ideologischen Konflikten geprägt ist, in einer Welt, deren Funktionieren schon seit einiger Zeit mehr als fraglich ist.

Und all das, um vermeintlich selbst ein Stückchen Größe abzubekommen… jeder Amerikaner, der begeistert Beifall klatscht, wenn er „America first!“ hört, der hört im Grunde vor allem „Me first!“. Jeder Katalane, der „Independencia“ schreit, meint in erster Linie seine eigene Unabhängigkeit, ebenso wie jeder Elsässer, der „Elsass frei“ grölt, vor allem „Ich selber frei!“ sagen will. Der Neonationalismus ist der Ausdruck des Bedürfnisses nach Identität, in einer Welt, in der wir alle zu seelenlosen Nummern werden.

Ärgerlich ist es allemal, denn in letzter Zeit wählen die Mehrheiten fast systematisch diejenigen, die am wenigsten die Interessen der Menschen, dafür aber ihre eigenen vertreten. Doch was soll man machen? Man kann den Briten nicht verbieten, den größten Schwachsinn der Inselgeschichte bis zum bitteren Ende durchzuziehen, man kann den Türken nicht verbieten, denjenigen zu wählen, der sie ins kollektive Unglück führt.

Das einzige, was wir machen können, ist es, die Zusammenarbeit mit diesen Seltsam-Regimes aufs strikte Minimum zu reduzieren oder ganz einzustellen. Mit Erdogan zurechtkommen müssen die Türken, nicht wir. Den Brexit müssen die Briten überstehen, nicht wir. Aber schade ist schon, dass die Welt gerade komplett wahnsinnig wird. Für die Zukunft ist das alles andere als beruhigend.

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