Serie (5) – Europäische Gelder für die Mafia?

Heute: Die Justiz im Dienste des organisierten Verbrechens - Die außergewöhnlichen Fehlfunktionen des italienischen Justizsystems durch wiederholte Vertuschung und Korruption, die Verbindungen zu Wirtschaft und Politik und das Schweigen des Obersten Justizrats.

Das Kassationsgericht in Rom. Foto: RL

(Kai Littmann) – Die Verfassungscharta besagt, dass das italienische Justizsystem wie in allen demokratischen Ländern funktioniert. Es gibt Gerichte, Berufungsgerichte, das Kassationsgericht und den Obersten Justizrat (Consiglio Superiore della Magistratura – CSM), der die ordnungsgemäße Arbeit der Gerichte und der Magistrate unter der Kontrolle des Verfassungsgerichts beaufsichtigt. In der Praxis ist die Judikative allerdings Teil dessen, was in vielen Büchern und Presseartikeln als „il sistema“ bezeichnet wird, ein geschlossener Kreis, an dem Politik, Justiz, mächtige Unternehmen und das organisierte Verbrechen beteiligt sind. Dieser Artikel könnte fünfzig Seiten lang sein, um die Korruption auf höchster Ebene des italienischen Staates aufzuzeigen, aber es ist effektiver, den aktuellen Zustand des italienischen Justizsystems anhand des Falls des ehemaligen Richters Luca Palamara und des Rechtsanwalts Piero Amara zu veranschaulichen, ein Skandal, der Italien derzeit erschüttert.

Luca Palamara hat eine außergewöhnliche Karriere hinter sich. Als jüngster Präsident der ANM (Nationale Vereinigung der Richter und Staatsanwälte) und Mitglied des höchst angesehenen Obersten Justizrats, war Luca Palamara für noch höhere Ämter vorgesehen. Allerdings wurde gegen ihn wegen „Korruption“ ermittelt und Anklage erhoben (die später in „Einflussnahme“ umgewandelt wurde), und nachdem er aus diesen ehrenwerten Gremien ausgeschlossen worden war, begann Palamara zusammen mit dem Rechtsanwalt Piero Amara, Listen mit den Namen korrupter Richter zu veröffentlichen. Palamara erstellte eine Liste mit 40 bis 70 Namen hoher Persönlichkeiten weiter, die einer geheimen Freimaurerloge angehörenoder angehörten, die auch unter dem Namen „Ungharia“ oder „P5“ bekannt ist. Um das Vergnügen in die Länge zu ziehen, gibt Palamara diese Liste tröpfchenweise heraus, und in vielen Politikerbüros und Gerichten zittern heute viele Menschen aus Angst, dass auch ihre Namen öffentlich auftauchen könnten.

Der Skandal betrifft auch den Obersten Justizrat (CSM) sowie das Kassationsgericht, prominente Politiker, den Präsidenten des CSM und den Präsidenten der Republik Sergio Mattarella, der als Garant für die Einhaltung der Verfassung logischerweise über alle Missstände in „il sistema“ Bescheid wissen muss. Für „il sistema“ spielt der CSM eine sehr wichtige Rolle, da dieser Rat die Vergabe von Stellen in den Gerichten regelt; Versetzungen beschließt (wichtig, um sicherzustellen, dass bestimmte Fälle vor Gerichten verhandelt werden, denen gefällige Richter vorstehen); er ernennt auch die Richter am Kassationsgericht und hat weitere Funktionen, die es ermöglichen, Verfahren im Interesse von „il sistema“ zu steuern.

In dem Artikel dieser Serie über den Fall des Geschäftsmanns Rosario Leo werden wir konkret aufzeigen, wie Verfahren von einem Gericht zum anderen weitergereicht werden, wie Akten „verloren gehen“ und manipuliert werden und wie „il sistema“ darauf hinarbeitet, Rosario Leo daran zu hindern, vom Kassationsgericht ein endgültiges Urteil zu erhalten, das es ihm ermöglichen würde, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen.

Für italienische Bürger ist der Gang zur Justiz ein riskantes Unterfangen, da es schwierig ist, festzustellen, wer Teil von „il sistema“ ist und welcher Magistrat korrekt arbeitet. Natürlich arbeiten viele italienische Magistrate korrekt, wie der Staatsanwalt von Castanzaro, Nicola Gratteri, den wir in dieser Serie noch vorstellen werden. Aber Richter, die nicht „il sistema“ gehorchen, zahlen einen hohen Preis für ihre Geradlinigkeit. Im Oktober wird Nicola Gratteri von „seinem“ Gericht in Kalabrien, wo er über 1000 Mafiosi angeklagt hat, darunter auch Politiker und Regionalräte, in ein anderes versetzt werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Nicola Gratteri an ein Gericht versetzt wird, in dem er nur wenig mit dem organisierten Verbrechen zu tun haben wird.

Natürlich handelt es sich in erster Linie um ein italo-italienisches Problem. - Aber in zweiter Linie ist es auch ein europäisches Problem, denn es ist dieses System, das die Verschwendung von EU-Geldern ermöglicht und damit das organisierte Verbrechen begünstigt, unter dem Schutz einer korrupten Politik und Justiz, die Unternehmer aus anderen EU-Staaten davon abhalten, in Italien zu investieren und/oder sich an öffentlichen und privaten Ausschreibungen und Aufträgen zu beteiligen.

Niemand im „il sistema“ kann behaupten, sich dessen nicht bewusst zu sein. Das umfassende Dossier von Rosario Leo wurde auch an den Präsidenten Sergio Mattarella, Regierungschefin Georgia Meloni, die Minister Di Maio, Salvini, Bonafede, Orlando, Cartabia und andere geschickt, dazu an Minister unter den vorherigen Regierungen wie Renzi, Letta, Gentiloni, Conte und Draghi. Obwohl einige dieser Politiker versprachen, das Problem zu lösen, geschah dies nicht und die in diese Verfahren verwickelten Magistrate wurden fast alle befördert und erhielten andere interessante Posten, jedoch wurde keiner dieser Magistrate jemals belästigt oder angeklagt. Die vollständige Liste der betroffenen Richter und Staatsanwälte liegt der Redaktion vor. Bisher schweigt der CSM, aber es wird nicht lange dauern, bis die Mitglieder von „il sistema“ von Luca Palamara und/oder dem Anwalt Piero Amara, einem ehemaligen Anwalt von ENI s.p.a., veröffentlicht werden. Amara, der ebenfalls wegen Bestechung von Richtern und dem Kauf von Urteilen im Wert von über 400 Millionen Euro und anderen Straftaten angeklagt wurde, packt nun ebenso wie Palamara aus.

Die Europäische Kommission sollte wirksame Kontrollen einführen, um die in Italien investierten EU-Gelder zu überwachen. Die Europäische Kommission sollte bei den geringsten Anzeichen von Korruption und Finanzierung des organisierten Verbrechens die Zahlungen einstellen. Die zahlreichen Verstöße gegen das Anti-Mafia-Gesetz (Gesetz 55/1990), die von „il sistema“ begangen wurden, müssen ebenfalls von Brüssel behandelt werden, das nicht weiter die Augen vor dieser Mitfinanzierung des organisierten Verbrechens in Italien verschließen kann.

Momentan hüten Luca Palamara, Piero Amara und die Generalstaatsanwälte des Obersten Kassationsgerichts seit 2014 die Geheimnisse der gesamten hier dargestellten Angelegenheit für sich. Doch welche Maßnahmen werden die Europäische Kommission und der EGMR ergreifen?

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