Showtime im Gerichtshof: Alexej Nawalny in Straßburg

Am Sonntag werden in Russland Demonstrationen für Demokratie und gegen Korruption stattfinden. Allerdings sind sie in St. Petersburg und Moskau verboten, trotzdem will der Geschäftsmann und Blogger Alexej Nawalny daran teilnehmen. Für den Putin-Kritiker eine weitere Gefahr, verhaftet zu werden – oder eher eine weitere Gelegenheit?

Alexej Nawalnys Auftritt auf der großen Bühne des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am 24. Januar 2018. Foto: Twitteraccount @navalny, Vladimir Kara-Myrsoi

(Von Michael Magercord) – In der Europäischen Konvention der Menschenrechte lautet der achtzehnte Artikel: „Die nach dieser Konvention zulässigen Beschränkungen der genannten Rechte und Freiheiten dürfen nur zu den vorgesehenen Zwecken erfolgen“. Ausgerechnet dieser auf den ersten Blick nicht besonders fordernde Artikel stand im Mittelpunkt der Klage, die der russische Kremlkritiker Alexej Nawalny am vergangenen Mittwoch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorbrachte. Ob dieser Artikel im Prozess gegen den russischen Staat durch das Gericht schließlich Anwendung findet, wird auch über den eigentlichen Prozess hinaus von großer Bedeutung sein.

Es geht um Fälle aus den Jahren 2012 bis 2014. Damals wurde der kritische Blogger und Geschäftsmann im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen Korruption und die Regierung Putins mehrmals verhaftet. Schon einmal standen diese Fälle vor dem Straßburger Gericht. Im Februar 2017 gestand dessen Kleine Kammer dem Kläger eine Entschädigung durch den russischen Staat zu. Das Urteil beruhte damals auf den Artikeln 5, 6 und 11, worin die Rechte auf Freiheit, faire Behandlung in Haft und Verfahren sowie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit festgeschrieben sind. Nawalny klagte nochmals, nun aber auf den Artikel 18. Wozu? Um schließlich die politischen Motive des russischen Staates für seine Verhaftung durch das Gericht anerkennen zu lassen.

In der Anhörung vor der Großen Kammer am Mittwoch legten beide Seiten den siebzehn Richtern ihre Sicht auf die fraglichen Ereignisse dar. Der Vertreter des russischen Staates zählte haarklein auf, wie berechtigt die Verhaftungen waren: Die Demonstrationen waren nicht genehmigt, sie hätten die öffentliche Ordnung und den Verkehr gestört. Die Polizei musste einschreiten, und zwar nach den geltenden Gesetzen zur Versammlungsordnung, genauso wie es – so der Anwalt Mikhail Galperin – in den meisten westeuropäischen Staaten gehandhabt wird. Die Polizei sei dabei immer zurückhaltend vorgegangen, keine Schlagstöcke, keine Wasserwerfer, keine Hundestaffeln – und vor allem: keine Politik. Auf die Nachfrage der deutschen Richterin Angelika Nußberger, ob die örtliche Polizei auf höheren Befehl gehandelt habe, berief sich der Anwalt auf überall gängige Gepflogenheiten: Polizisten vor Ort handeln immer unter Rücksprache der polizeilichen Führung – wie in allen Demokratien.

Alexej Nawalny wurde grundsätzlich und bemühte die Paläontologie: Dass seine Verhaftungen nichts mit Politik zu tun gehabt hätten, sei so wahrscheinlich, als dass ein Dinosaurier in den Gerichtssaal eintreten werde. Denn alles, was Opposition leisten kann, sei nun im Russland Putins verboten: NGOs müssen sich registrieren, Genehmigungen für Demonstrationen gäbe es nur zu Unzeiten und an Unorten, mitten Wald um sieben Uhr morgens etwa, und an der Wahl zum Präsidenten dürfe er, der vielleicht noch aussichtsreichste Gegenkandidat, gar nicht erst teilnehmen, kurz: es sei eben doch wahrscheinlicher, dass die Dinosaurier zurückkehrten, als dass Putin die Wahl am 18. März verlieren könnte. Immerhin sorgte der rhetorische Einsatz der Urviecher für Lacher im Saal, was dann aber folgte, schon weniger: dieses Gericht, so der Kläger, ist die letzte Waffe der Opposition und somit sei nicht nur jede seiner Verhaftungen politisch, sondern auch jedes Urteil der Richter.

Der 41-jährige Nawalny, war schon häufiger erfolgreicher Kläger in Straßburg. Selten kommt es aber vor, dass der Kläger auch persönlich im Gerichtssaal erscheint. Dass er es nun tat, nährt den Verdacht, er wolle das EGMR eher als politische Bühne benutzen, als für seine persönliche Gerechtigkeit streiten. So sieht es auch die russische Seite: Nawalny riefe seine Anhänger zu illegalen Demonstrationen auf, um sich dort verhaften zu lassen und dann in Straßburg Klage einzureichen –er politisiere das Gericht, nicht der russische Staat. Russland hatte bislang alle Prozesse verloren und die Urteile akzeptiert, auch, weil der Staat nie aufgrund Artikel 18 verurteilt.

Wird sich das nun ändern? Alexej Nawalny hegt klare politische Absichten mit seinem Auftritt vor den Straßburger Richtern. Auch wenn er – wie er selber sagt – im Vergleich zu Nelson Mandela ein bequemes Leben als Oppositioneller hat, gilt er in Russland als einer der wenigen Kremlkritiker, der sich ernsthaft der Aufklärung und Sacharbeit widmet, wie beim Kampf gegen die Korruption. Seine Positionen polarisieren aber auch, er ist zwar ein entschlossener Putin-Gegner in Fragen der inneren Modernisierung Russlands, doch liegt er bei Vielem auf der Linie des Präsidenten: die Krim ist und bleibt russisch, und Steuergelder für die Muslime im Kaukasus würde es auch bei ihm nicht geben. Nach westlicher Ansicht wäre er wohl ein Nationalist, was immer wieder Spekulationen auslöst, er könne mit Willen Putins irgendwann doch in den Kreml kommen – in welcher Position auch immer.

Sollte es jemals soweit kommen – bis dahin jedenfalls wird das Spiel der beiden wohl noch eine Weile andauern: ungenehmigte Demonstration, willkürliche Verhaftung, Klagen vor russischen Gerichten und schließlich Prozess in Straßburg. Schon jetzt hat Nawalny angekündigt, sich rechtlich gegen den Ausschluss an der Präsidentenwahl zu beschweren, und am kommenden Sonntag bei erneut nicht genehmigten Demonstrationen in St. Petersburg und Moskau wird es sicher wieder zu Festnahmen kommen.

Welche Rolle aber wird das Gericht in dieser Auseinandersetzung spielen? Würde es bei einer Anwendung des Artikel 18 darin eine politische Rolle übernommen haben? Diese Fragen stehen durchaus in einem Zusammenhang mit der erst kürzlich in einem Artikel der deutschen Richterin Angelika Nußberger und derzeitigen Vizepräsidenten am EGMR in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ wieder aufgenommenen Debatte über die zukünftige Rolle von europäischen Gerichten in den Einigungsbemühungen auf dem Kontinent: Ist es nicht schädlich, wenn sich supranationale Institutionen in politische und gesellschaftliche Belange einzelner Staaten über ihre eigentliche Rolle hinaus einmischen? Wie weit sollten insbesondere die Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg dabei gehen?

Das Urteil im Falle Nawalny gegen Russland wird erst in einigen Monaten gefällt und verkündet werden – ein richtungsweisende Entscheidung wird es so oder so sein, sowohl für den Kläger und den beklagten Staat, wie auch für Europa insgesamt.

Hier finden Sie den Artikel der EGMR-Vizepräsidentin Angelika Nußberger

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