Sichtbarkeit des Unsichtbaren – Fotos aus dem Schwarzwald

Der italienische Fotograf Antonio Pisacreta hat vor zwei Jahren seine eigene Galerie eröffnet – und zwar in St. Peter im Schwarzwald. Und dann kam Corona. Doch jetzt darf es wieder losgehen mit den Ausstellungen – und worüber zuerst? Klar: den Schwarzwald.

Nebelschwaden können es nicht verdecken - der Schwarzwald macht das Unsichtbare sichtbar. Foto: Antonio Pisacreta ROPI

(Michael Magercord) – Auf nach St. Peter! In Freiburgs Norden ins Glottertal abbiegen, vorbei an der Einfahrt zur guten alten Schwarzwaldklinik und weiter hinauf auf 700 Höhenmeter. Jetzt nur noch am Kloster um die Ecke und hinein in den Ausstellungsraum von Antonio Pisacreta. Und dann mit seinen Bildern aus dem Schwarzwald der sichtbaren Unsichtbarkeit der Landschaft auf die Spur kommen und verstehen, dass durch den tiefen Blick auf die Landschaft unsere Seele sichtbar wird…

Aber halt, der Reihe nach! Der Schwarzwald – darf ich offen sprechen? Während des Corona-Lockdowns hatte ich viel ferngesehen. Vor allem als Konserve im Internet und ich muss gestehen: Jeden Abend schaute ich eine Folge der guten alten TV-Serie „Die Schwarzwaldklinik“, insgesamt alle siebzig (in Zahlen: 70!) hintereinander weg, das sind zusammen gezählt mehr als zwei volle Tage und Nächte im Reich von Professor Brinkmann, Oberschwester Hildegard und Verwaltungsdirektor Mühlmann.

Nun konnte ich mir zugutehalten, dass ich mich mit dieser Dauerberieselung einem freiwilligen Selbstversuch ausgesetzt habe. Allerdings nicht, um zu erkunden, ob es – wie man durchaus vermuten dürfte – gute Gründe gibt, den 80er Jahren in der alten Bundesrepublik hinterherzutrauern. Sondern um den Beweis für meine steile These anzutreten, dass die Landschaft das Abbild unserer kollektiven Seele ist. In ihr finden sich die Zeugnisse des Vergangenen, während sich gleichzeitig unser heutiges Leben darin abspielt. An der Landschaft können wir ablesen, was uns geprägt hat, aber eben auch, was uns nun umtreibt. Wer dem wahren Wesen des Menschen auf die Spur kommen will, so meine kühne Behauptung, der sollte besser nicht fragen, was der Mensch sei, sondern wo er ist.

Also ab in den Schwarzwald, an jedem der downgelockten Abende, siebzig Mal hintereinander: Los geht’s mit der Musik – dadadaaadadadaaadada – und schon kommen die Bilder: die hügeligen Höhen, die dichten Fichtenwälder, die almenartigen Wiesen, die verstreuten Gehöfte, die windfesten Krüppelwalmdächer… und klar, umgehend stellt sich die gewichtige Weltdeutungsfrage: Hätte man die Schwarzwaldklinik aus dem Fernsehen anderswo als im Schwarzwald verorten können? Oder konnte diese heile Welt mit seinen kleinen, aber auch größeren Verwerfungen, die sich jedoch meist zum Gefalle aller lösen lassen, nur in dieser Landschaft angesiedelt werden?

Konnte Professor Brinkmann also schließlich nur vor der Kulisse des Schwarzwaldes in der letzten Folge der Sendereihe diese Worte an die wirkliche Welt da draußen richten: „In Wirklichkeit sieht alles viel schlechter aus, trostloser und verzweifelter. Ich will gar nicht darüber befinden, ob diese Wirklichkeit stimmt, aber sollte diese Wirklichkeit stimmen, dann soll man bitte von uns nicht verlangen, dass wir diese Wirklichkeit für uns zum Vorbild nehmen, sondern diese Wirklichkeit soll in Gottes Namen sich uns zum Vorbild nehmen.“

Noch bevor man vor lauter Seligkeit zur Besinnung kommt, noch bevor man sich also hätte fragen können, ob der TV-Professor der Welt eine wohltuende Botschaft mit auf den Weg gibt, ja, ihr gar eine fast schon utopische Verheißung verkündet, oder ob da doch nur die eitle Vermessenheit der Unterhaltungsindustrie zugeschlagen hatte, läuft bereits der Abspann – dadadaaadadadaaadada – und schon kommen wieder diese Bilder… Bilder nämlich, die genau das darstellen, was Landschaft ist: unser gemeinsames „Wo“. Wer dieses „Wo“ genauer betrachtet und hinsieht, wie wir mit ihm umgehen, dem zeigt sich wie in einem offenen Buch unsere geistige Verfassung – und zwar in ihrer ganzen inneren Widersprüchlichkeit: romantische Beseeltheit mit hohem Gebrauchswert. Gleichzeitig offenbart sie durch all die kleinen und großen Objekte, die sich dank der unermüdlichen Bestückung durch ihre Bewohner nun darin befinden, all das, was uns wichtig war und ist, und was wir uns für die Zukunft wirklich wünschen.

Dieser Blick auf unsere wahren Wünsche kann allerdings auch ziemlich ernüchternd sein, wenn man auf die moderne Landschaft aus Autobahnkreuzen, Lagerhallen und durchgenormten Wohngebieten schaut. Das ist tatsächlich trostlos und zum Verzweifeln – aber da ist ja noch dieser Schwarzwald aus dem Fernsehgerät! Und bevor auch der Abspann beendet ist, bleibt immerhin genug Zeit, einmal richtig durchzuseufzen: Ach, muss das Leben schön sein, wenn es nicht ganz so wäre, wie es wirklich ist, wie in der Schwarzwaldklinik halt – dadadaaadadadat. Und damit war’s aus, die Serie und der Lockdown, willkommen zurück in der Wirklichkeit…

Aber halt, jetzt haben wir ja die Fotos aus dem Schwarzwald! Antonio Pisacreta ist – soviel sei verraten – bekennender Schwarzwälder. In den 80er Jahren, ja genau jene 80er Jahre der Schwarzwaldklinik, kam er aus Italien und gründete seine Fotoagentur ROPI in Freiburg. Im Sommer 2019 eröffnete er zudem eine Fotogalerie in St. Peter nahe der Klosterkirche, ja genau dort, wo Professor Brinkmann in der 12. Folge Schwester Christa geehelicht hatte. Als Fotograf kennt Antonio Pisacreta die ganze Welt, er ist Spezialist für China und liefert seine Prints an Magazine und Zeitschriften rund um den Globus – und nun stellt er endlich wieder seine Fotos aus, und klar: Es sind Bilder aus dem Schwarzwald.

Der versierte Fotograf wird mir hoffentlich verzeihen, dass ich seine wunderbaren Fotos nun zur Fortsetzung meines Selbstversuches nutze, um mit ihrer Hilfe den letzten Beweis anzutreten, dass die Landschaft der Ausdruck des übersinnlichen Teils unseres Wesens ist, nenne man ihn Seele oder einfach das Unsichtbare. Und dieser unsichtbare Teil des Menschen ist bestimmender für den Lauf der menschlichen Dinge, als die Dinge selbst, auch wenn er sich nicht immer gleich zeigt. Doch um uns den eigenen Übersinn vor Augen zu führen, haben wir diese Bilder aus dem Schwarzwald – nicht von ungefähr gab der Fotograf seiner Ausstellung den Titel: Die unsichtbare Landschaft.

Denn keine Landschaft eignet sich besser dazu, das Unsichtbare sichtbar zu machen, als die des Schwarzwaldes. Denn obwohl sie als Naturlandschaft erscheinen mag, ist sie denkbar unnatürlich: Bis auf das Relief der Hügelketten ist im Schwarzwald nahezu alles von menschlichen Aktivitäten geprägt. Nicht nur die Wiesen und die Almen, nein, selbst der tiefe Wald mit seinen Nadelgehölzen ist willentlich angepflanzt, in unseren geografischen Breiten wüchsen dort eigentlich vornehmlich Buchen. Der Schwarzwald ist vom Menschen gemacht, geformt nach seinem Bilde.

Und so bezeichnet Antonio Pisacreta seine Fotoserie auch als „Fotostudien zur anthropogenen Landschaft – oder wie der Mensch die Landschaft für seine wirtschaftlichen, ästhetischen und kulturellen Interessen umgestaltet“. Und seine perfekten Abbilder zeigen eine menschliche Landschaft, die in ihrer ganzen Schönheit als Utopie einer idyllischen Wirklichkeit erscheinen will. Die Fotos sind ein sichtbares Abbild eines doch eigentlich unsichtbaren Wunschbildes.

Jetzt ist dem ein oder anderen das doch ein bisschen zuviel mit dem Übersinnlichen und dem Unsichtbaren geworden. Und so mancher vermag in dem zur Landschaft gewordenen Willen zur Idylle auch eine gute Portion Selbstbezüglichkeit und Selbstgefälligkeit einer allzu heilen Welt zu entdecken. Dem aber sei nun dieses kleine, aber für die Weltdeutungsfrage gewichtige Geheimnis aus der Schwarzwaldklinik mit auf den Weg nach St. Peter gegeben: Wie fast alle Innenspielszenen der TV-Serie, sogar jene, die sich in dem hutzeligen Schwarzwaldhaus der Familie Brinkmann abspielen, wurde auch die utopistische Ansprache des verehrten Herrn Professors in einem schnöden Filmstudio in Hamburg aufgenommen – das sichtbare Unsichtbare lauert eben überall.

„Die unsichtbare Landschaft“ – Fotostudien aus dem Schwarzwald
Ausstellung mit Bildern von Antonio Pisacreta
bis Sonntag, 2. Januar 2022

ROPI Fotogalleria
Zähringer Str. 10
79271 St. Peter

Öffnungszeiten:
Mi 9-13 Uhr + 15-19 Uhr, Sa 9-13 Uhr und So 10-13 Uhr.

Alle ausgestellten Bilder können käuflich erworben werden.
Infos unter: www.fotogalleria.ropi-online.de

1 Kommentar zu Sichtbarkeit des Unsichtbaren – Fotos aus dem Schwarzwald

  1. Michael Magercord // 7. Januar 2022 um 22:59 // Antworten

    Als hätten wir, die das Unsichtbare im Sichtbaren suchen, es geahnt: Es braucht seine Zeit, fündig zu werden. Folgerichtig ist die Ausstellung in St. Peter nun um zwei Monate bis zum 5. März verlängert. Danach übrigens geht es dann in der Galleria mithilfe von Fotos und ihren Momentaufnahmen auf die Suche des “Kairos”, des kritischen Augenblick der Entscheidung.

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