„Single Seat“ – „Straßburg und der Oberrhein können weiter wachsen!“

Interview mit dem deutschen Europaabgeordneten Arne Gericke von der „Familienpartei“, der für den Sitz des Europäischen Parlaments in Straßburg kämpft – mit Entschlossenheit und sehr guten Argumenten.

MdEP Arne Gericke (Familienpartei) engagiert sich sehr für den "Single Seat" in Straßburg. Foto: www.familien-partei-deutschlands.de

(KL) – Nur wenige nehmen mit so einer Klarheit Stellung für den einzigen Sitz des Europäischen Parlaments in Straßburg. Arne Gericke, Abgeordneter der kleinen „Familienpartei“, zeigt im Gespräch ein hohes persönliches Engagement – er will alles daran setzen, dass das Europäische Parlament die belgische Hauptstadt verlässt und ein souveränes Arbeitsumfeld in Straßburg findet. Interview.

Herr Gericke, Sie engagieren sich für den „Single Seat“ des Europäischen Parlaments in Straßburg und das nicht nur aus finanziellen Gründen…

Arne Gericke: Zunächst sollte man einmal festhalten, dass die Europäischen Verträge einen solchen Umzug des Parlaments nach Straßburg ermöglichen, es würde ausreichen, dass der Europäische Rat eine diesbezügliche Entscheidung trifft. Und in der Tat sprechen mehrere Gründe für Straßburg. Wenn der Aspekt der Kosten sehr wichtig ist, wenn man die unglaublichen Kosten für die Renovierung der baufälligen Gebäude sowie den Neubau neuer Gebäude in Brüssel ansieht, muss man sehen, dass die europäischen Einrichtungen in Straßburg noch weitere Vorteile bieten – sie können fast beliebig erweitert werden, sie wurden extra für das Parlament und seine Mitarbeiter gebaut und in Straßburg haben die Abgeordneten, die zuallererst ihren Wählerinnen und Wählern gegenüber verantwortlich sind, eine gesündere Distanz zu den mehr als 20.000 Lobbyisten in Brüssel. Ich glaube, dass das Parlament in Straßburg eine größere Souveränität vorfinden würde, vor allem wenn man bedenkt, dass uns heute in Brüssel die Verwaltung den Arbeitsrhythmus vorgibt.

Wie das?

AG: Von den europäischen Einrichtungen in Brüssel hängen direkt und indirekt ungefähr 10.000 Arbeitsplätze ab. Dadurch ist ein enormer Verwaltungsapparat entstanden, der die Arbeitsabläufe der Abgeordneten bestimmt, was eigentlich umgekehrt sein sollte – häufig erhalten wir die Unterlagen zu wichtigen Entscheidungen erst zwei oder drei Tage vor den Beratungen, da die Verwaltung das eben nicht anders organisieren kann. Brüssel steht für die Technokratie, während Straßburg, alleine schon mit den dedizierten Gebäuden, für ein ganz anderes Arbeitsumfeld.

Sie erwähnen die 20.000 Lobbyisten in Brüssel…

AG: Ich bin nicht dagegen, dass es Lobbyisten gibt – in vielen Vorgängen brauchen wir Informationen von Experten, von denen viele eine wichtige Arbeit im Vorfeld unserer Entscheidungen leisten. Aber seien wir ehrlich: Es gibt auch Lobbyisten, die versuchen, Stimmen zu kaufen. Bei einigen Entscheidungen verstehe ich nicht, wie meine Kollegen so abstimmen können, wie sie das tun und man muss einfach sehen, dass Geld Einfluss kaufen kann.

Glauben Sie nicht, dass im Falle eines Umzugs nach Straßburg, die Lobbyisten einfach mit in die elsässische Hauptstadt umziehen würden?

AG: Ein Teil der Lobbyisten würde sicherlich auch nach Straßburg kommen, doch in Straßburg herrscht eine wesentlich neutralere, demokratischere Atmosphäre. Das Sortieren zwischen unanständigen und nützlichen Kontaktaufnahmen erfolgt ohnehin durch die Mitarbeiter in unseren Büros, die sehr gut mit diesen Funktionsweisen vertraut sind. Nehmen Sie als Beispiel das letzte Wochenende, als bei mir mehr als 700 Emails zum Thema Stierkampf in Spanien einliefen und die ich löschen musste. Aber gleichzeitig war in dem Wust an Emails auch der wichtige Kontakt mit der Initiative von Catherine Trautmann bezüglich ihrer Initiative „Strasbourg – The Seat“. Ich glaube, dass dieses „Sortieren“ zwischen unerwünschten und wichtigen Kontakten in Straßburg auch einfacher wäre.

In Brüssel muss man sich also regelrecht gegen bestimmte Interessengruppen „verteidigen“…

AG: Brüssel ist eine Art „europäischer Melting Pot“. Selbst am Abend sind einfach alle zu dickt beieinander, alles vermischt sich, Abgeordnete, deren Mitarbeiter, Lobbyisten, alle sind in den gleichen Restaurants und Bars im Europäischen Viertel – in Straßburg wäre das anders.

Doch neben der Frage nach dem Umfeld muss man den finanziellen Aspekt und die Funktionsweise des Parlaments betrachten. Während in Brüssel immer nur Fragen gestellt werden, erhalte ich in Straßburg immer Antworten. Hier gibt es viele, die sich für Europa stark machen, überzeugte Ansprechpartner, die sich für die europäische Sache engagieren.

Sprechen wir über den finanziellen Aspekt des Parlaments in Brüssel…

AG: Nach dem heutigen Stand der Dinge und vor allem dem „Welle-Plan“, müsste man 400 Millionen Euro in die Renovierung des baufälligen Gebäudes des Parlaments in Brüssel stecken. Zwei Jahre später stehen dann weitere 600 bis 800 Millionen Euro für den Bau neuer Gebäude an. Und selbst in dieser Phase will das Parlament nicht nach Straßburg gehen, was bedeutet, dass 750 vorübergehend belegte Büros angemietet werden müssten, die in ganz Brüssel verstreut wären, wo ohnehin alles schon chaotisch genug ist. Statt enorme Summen in solche „Zwischenlösungen“ zu investieren, muss man jetzt handeln, bevor in Brüssel nicht rückgängig zu machende Tatsachen geschaffen werden. Daher arbeiten wir an unseren Plan „Straßburg 2016/17“, bevor dieses Geld in Brüssel investiert wird.

Sie sagen „wir“ arbeiten an einem „Plan Straßburg 2016/17“ – wer ist „wir“?

AG: Ja, wir haben eine Arbeitsgruppe gegründet, die nach dem Ort benannt ist, an dem wir uns das erste Mal getroffen haben, die „Kammerzell-Gruppe“. In dieser Gruppe arbeiten Europaabgeordnete aus mehr als 10 Ländern und 5 verschiedenen Fraktionen, also aus allen politischen Lagern. Wir teilen eine gemeinsame Sicht, dass der „Single Seat“ dort eingerichtet werden soll, wo er hingehört – in Straßburg. Daher arbeiten wir an diesem „Plan B“ statt dem „Welle-Plan“, der eben diese großen Investitionen in Brüssel vorsieht.

Sie haben die Initiative von Catherine Trautmann „Strasbourg – The Seat“ angesprochen – haben Sie Kontakte mit dieser Initiative?

AG: Ich war der einzige Europaabgeordnete, der bei der Pressekonferenz von Frau Trautmann in Brüssel war und ja, der Kontakt ist hergestellt.

Und können Sie sich vorstellen, Ihre Kräfte zusammen zu bündeln?

AG: Aber auf jeden Fall! Frau Trautmann ist eine eminente politische Persönlichkeit, die über beeindruckende Netzwerke verfügt und die ihre Dossiers perfekt beherrscht, einschließlich der technischen Dossiers, die eine wichtige Rolle bei diesen Überlegungen spielen, wie das Thema der Stadtentwicklung und der Entwicklung des Oberrheins. Ich kann mir sehr gut vorstellen, als eine Art „Brückenkopf“ im Parlament zu fungieren und eng mit dieser Initiative und anderen bestehenden Initiativen zusammen zu arbeiten. Ich bin absolut bereit, mit all denen zu kooperieren, die wie ich für den „Single Seat“ in Straßburg kämpfen!

Das bedeutet, dass Sie auch an die Entwicklung der Stadt Straßburg und der Region denken?

AG: Man kann nicht vom „Single Seat“ sprechen, ohne an das Umfeld zu denken. Straßburg und der Oberrhein können mit dem „Single Seat“ wachsen und Straßburg hat das Potential, eine echte kulturelle Hauptstadt Europas zu werden. Die Stadt und ihre Region bieten zahlreiche Vorteile, doch muss man auch feststellen, dass die Stadt bei der Kommunikation dieser Trümpfe noch Fortschritte machen könnte…

Ach ja?…

AG: Die internationale Ausstrahlung Straßburgs muss verbessert werden, angefangen von der Darstellung der Informationen in mehreren Sprachen, aber auch auf graphischer Ebene… Mit meiner Partei, der „Familienpartei“, sind wir bereit, Arbeiten in diese Richtung zu unterstützen. Wir können uns vorstellen, hier den „Input“ zu liefern und zu helfen, den „Output“ zu transportieren.

Und was ist mit den europäischen Verkehrsanbindungen, die immer wieder angesprochen werden, wenn es um den Sitz des Parlaments in Straßburg geht? Air France wird nächstes Jahr sogar seine Flüge nach Paris-Orly einstellen…

AG: Das hängt doch alles nur vom Willen der Entscheidungsträger ab! Wenn morgen die europäischen Institutionen zu einer Fluggesellschaft gehen und ihr an bieten, entsprechende Jahreskontingente zu kaufen, dann werden ganz schnell neue Verbindungen aufgemacht, das können Sie mir glauben. Dazu sollte man auch an den Hochgeschwindigkeits-Verbindungen arbeiten – aktuell wird an Plänen für eine solche Verbindung von Dänemark nach Brüssel gearbeitet und diese Pläne könnten in Richtung Straßburg erweitert werden. Und was beispielsweise die Abgeordneten aus den östlichen Ländern Europas angeht, für die macht es keinen Unterschied, ob sie nach Brüssel oder nach Straßburg reisen.

Es gibt Pläne, es gibt Zahlen, aber es gibt auch die drei letzten Abstimmungen im Parlament, bei denen sich ungefähr 80 % der Abgeordneten für Brüssel ausgesprochen haben…

AG: Bei diesen Abstimmungen muss man vorsichtig sein, denn bei ihnen ging es nicht um Brüssel, der Name der Stadt als „Single Seat“ wurde sorgsam ausgeklammert. Es war immer nur die Rede von einem „Single Seat“, ohne dass präzisiert wurde, um welchen es sich handelt. Ich bin überzeugt, dass wenn die Abgeordneten objektiv und neutral über die Vor- und Nachteile der beiden Optionen informiert wären, sich die Mehrheiten auch ändern könnten. Daher sollte man sich nicht allzu sehr von diesen Abstimmungen beeindrucken lassen, die auf der Grundlage von Informationen erfolgten, die nicht ganz korrekt waren.

Herr Gericke, vielen Dank für dieses Gespräch!

Info: Die „Road Map“ von Arne Gericke

2016:

* Offizieller Stopp des „Welle-Plans“ zur Sanierung der Gebäude in Brüssel
* Aussetzen der Mini-Plenarsitzungen in Brüssel, sofortige Ausdehnung der Straßburger Plenarwoche von Montag bis Freitag
* Beschluss des Europäischen Rats zur Reduzierung der Arbeitsorte des Europäischen Parlaments und Stärkung des einzigen parlamentarischen Sitzes Straßburg
* Verkauf der 6 parlamentseigenen Gebäude in Brüssel (Marktwert ca. 2 Milliarden Euro) und Kündigung der 10 bestehenden Mietverträge
* Erstellung des Erweiterungsplans des Parlaments in Straßburg, Bau und Finanzierung zusätzlicher Gebäude durch den französischen Staat
* Vereinbarung zwischen der französischen und der deutschen Regierung über begleitende Maßnahmen zur Entwicklung der Oberrheinregion (Wohnungsbauförderung, Infrastrukturmaßnahmen)
* Vereinbarung zwischen Belgien, Frankreich und Deutschland über den Ausbau der Zugschnellverbindung Brüssel – Luxemburg – Straßburg (weiter nach Stuttgart, Nürnberg und Prag) – Machbarkeitsstudie zur besten Verbindung (Eurostar, TGV, ICE, Transrapid)
* Umzug der Abgeordneten und der parlamentarischen Assistenten bis Sommer 2016 nach Straßburg
* Umzug des Ausschusses der Regionen, des Wirtschafts-, und Sozialausschusses nach ins Straßburger Europaviertel

2017

* Sukzessiver Umzug aller EP-Beamten nach Straßburg, Fortführung des Wohnungsbauprogramms für die Oberrhein-Region
* Ausbau der Europäischen Schule in Straßburg, Gründung einer neuen Europaschule Oberrhein als Internats-Institut
* Schaffung einer Europäischen Universität in den ehemaligen Parlamentsgebäuden in Brüssel

2018

* Fortführung des Umzugs, Neuansiedlung technischer Einheiten des Europaparlaments in Straßburg

2019

* Bis Juli 2019, Komplettumzug des Europäischen Parlaments nach Straßburg

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