Stalingrad – schwieriges Erinnern

Vor 80 Jahren wendete sich das Blatt im II. Weltkrieg. Durch ihren Erfolg in Stalingrad läutete die Rote Armee die Niederlage von Nazi-Deutschland ein.

2 Millionen Menschenleben kostete die Schlacht um Stalingrad. Foto: Unknown author / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Stalingrad, das ist ein Name, der heute noch den Menschen in Ost und West kalte Schauer über den Rücken jagt. Doch auch, wenn Wladimir Putin die Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag des Siegs der Roten Armee über Nazi-Deutschland zu wüster Propaganda nutzte, sollte man dem Herren des Kreml nicht die Deutungshohheit über das überlassen, was 1943 an den Ufern der Wolga passierte.

Stalingrad, daran sollte sich jeder erinnern, der heute nach langen, blutigen Stellungskriegen in Orten wie Bachmut oder anderswo ruft. In etwas mehr als einem halben Jahr, von Juli 1942 bis Februar 1943, starben in Stalingrad ungefähr 2 Millionen (!) Menschen. 2 Millionen junge Menschen, die Zukunft ihrer jeweiligen Länder, die in der Eiseskälte des Wolga-Winters erschossen wurden, erfroren, verhungerten. Wer heute nach Stellungskrieg ruft, muss sich darüber klar sein, dass er dabei ein, zwei, drei Stalingrads in Kauf nimmt.

Stalingrad, die Erzählungen, die man der Generation der Väter und Großväter aus der Nase ziehen musste (denn freiwillig erzählte niemand von Stalingrad, der diesen Horror persönlich erlebt hatte), sind der Offenbarungseid des Homo Sapiens, der in der Brutalität des II. Weltkriegs sämtliche zivilisatorischen Errungenschaften über den Haufen warf und unglaubliche Gräueltaten gegenüber den Soldaten der jeweils feindlichen Armee, aber auch gegenüber den eigenen Kameraden beging.

Stalingrad, das ist aber auch der Wendepunkt des II. Weltkriegs, der Anfang vom Ende des Nazitums, der Grund, warum heute nicht ganz Europa deutsch spricht und braun trägt. Millionen russischer Soldaten und Zivilisten warfen sich an der Wolga den deutschen Invasionstruppen entgegen, stoppten den deutschen Vormarsch und läuteten so die Niederlage der Nazis ein. Dafür muss man Russland und der Roten Armee ewig dankbar sein, auch, wenn das heute sehr schwer fällt, wenn man sieht, dass sich die russische Armee in Butscha, in Kherson, in Mariupol und überall dort verhält, wo sie gerade ihr Unwesen treibt. Es ist die Perversion der Geschichte, dass sich heute die russische Armee, Befreier Europas in Stalingrad, so benimmt, wie die Nazis auf ihrem grauenhaften Marsch durch Osteuropa. Gestern Opfer und Helden, heute Täter und Kriminelle.

Stalingrad, das war ein gefundenes Fressen für die russische Propaganda in diesen Tagen. Zahlreiche russische Prominente, angefangen bei Putin, nutzten die Gelegenheit, um gegen den Westen zu wettern („Russland wird wieder von deutschen Panzern in der Ukraine bedroht“), um zu drohen und um ihr Narrativ der „militärischen Spezialaktion“ zu pflegen. Die Gelegenheit war günstig, bei Nennung des Namens Stalingrad durchläuft auch heute noch jeden Russen ein patriotischer Schauer.

Stalingrad, das ist anders, als Putin das so erzählt, nicht etwa die Mission, die Ukraine zu überfallen, sondern sollte ein Symbol für den extrem hohen Preis sein, den Frieden kostet. 2 Millionen Tote nur in Stalingrad!

Stalingrad mahnt uns, uns deutlich vor Augen zu halten, was Krieg wirklich ist. Anders, als sich das mancher westlicher Politiker vorstellt, beschränkt sich Krieg nicht auf Panzer-Besatzungen, die durch die Gegend fahren und ein wenig herumballern, und auch nicht auf klinisch präzise Luftschläge. So, wie Millionen junger Menschen elend in Stalingrad verreckt sind, verrecken heute junge Menschen an der russisch-ukrainischen Front und in den Palästen der Macht diskutiert man, wie man die nächsten Eskalationsstufen möglichst erfolgreich organisieren kann.

Stalingrad, das ist ein Name, der dafür steht, was einfache Menschen im Krieg erleiden, während ihre Führer weit entfernt im Warmen sitzen und Befehle bellen. Dabei erzählen sie den einfachen Leuten, wie süß und ehrenvoll es doch ist, für’s Vaterland zu sterben. Von den 2 Millionen Opfern in Stalingrad fand es niemand süß und ehrenvoll, dort sein Leben zu lassen.

Stalingrad, das ist ein Grund, auch heute, 80 Jahre später, einen dankbaren Gedanken an die russischen Soldaten und Zivilisten zu haben, denn hätten diese damals die deutsche Armee nicht unter größten Opfern aufgehalten, würde Europa heute tatsächlich Deutsch sprechen müssen.

Man sollte aber nicht alles vermischen. Ja, Ruhm und Ehre der Roten Armee, die das Ende von Nazi-Deutschland einläutete und es den Alliierten ermöglichte, Europa vom Westen her aufzurollen. Nein, Schimpf und Schande für die russische Armee, die heute in der Ukraine wütet, tötet, vergewaltigt und foltert wie damals die Nazis. Die historische Erinnerung gehört nicht etwa Wladimir Putin, sondern der ganzen Welt. Stalingrad totzuschweigen, wie viele westliche Politiker das dieses Jahr tun, wird der Geschichte nicht gerecht. Doch selten war Erinnerungsarbeit schwieriger als heute, 80 Jahre nach Stalingrad.

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