Stell dir vor, es ist Demokratie und keiner geht hin…

Der Wahlkampf für die Parlamentswahlen in Frankreich am 12. und 19. Juni läuft auf Hochtouren. Und man erkennt immer deutlicher, warum die Menschen nicht mehr wählen gehen.

Von den Umschlägen für die Wahlscheine wird man dieses Jahr wohl deutlich weniger brauchen... Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY 2.0

(KL) – Unsere europäische Demokratie befindet sich in einer schweren Krise. Unabhängig von den momentanen Katastrophen wie Pandemie oder Ukraine-Krieg, wenden sich seit Jahren immer mehr Wählerinnen und Wähler von der Politik ab, da sie sich weder von den handelnden Personen, noch von den Parteien ernstgenommen und vertreten fühlen. Doch so lange Parteien und Politiker persönlich von einem überholten System profitieren, werden sie nichts daran ändern.

Der aktuelle Wahlkampf für die Parlamentswahlen in Frankreich ist ein Paradebeispiel dafür, warum die Menschen nicht mehr wählen gehen. Alleine die Kandidatenaufstellung ist nicht nur höchst undemokratisch, weil sie im stillen Kämmerlein der Parteizentralen in Paris beschlossen wird, sondern auch, weil Kandidaturen an Politiker vergeben werden, die ihre Wahlkreise noch nie gesehen haben, bzw. keinerlei Bezug zu den Regionen haben, die sie dann vertreten sollen. Dieses System nennt man „Parachutage“, was mit „Fallschirm“ übersetzt wird. Kandidaten werden über den Wahlkreisen „abgeworfen“ und schauen dann, wie sie dort klarkommen.

Während ausnahmslos alle Kandidaten und Kandidatinnen von „Werten“ schwafeln, üben sie sich vor allem im Verrat. Die unmöglichsten Wahlbündnisse werden eingegangen, politische Gegner sind plötzlich beste Freunde, und Parteiwechsel kurz vor dem Wahltermin sind an der Tagesordnung. Da werden Posten und Pöstchen versprochen, da werden Hinterzimmer-Deals abgeschlossen, da wird gemauschelt und gefeilscht. Und dann wundert man sich in den Parteizentralen, dass die Wählerschaft nicht mehr folgt.

Eine Reform des politischen Systems in Frankreich, die so dringend erforderlich ist, um die neofeudale und völlig unzeitgemäße Interpretation des Konzepts „Macht“ in den Pariser Palästen zu modernisieren, erfordert zunächst, dass sich die Parteien von innen her neu aufstellen und ihre verkrusteten, korrupten Strukturen aufbrechen. Doch genau hier liegt das Problem. Diejenigen, die verkrustete und korrupte Strukturen aufbrechen müssten, sind diejenigen, die prächtig von diesen verkrusteten und korrupten Strukturen leben. Und die folglich keinerlei Motivation haben, irgendetwas am Status Quo zu ändern.

Doch kann es so nicht weitergehen und wir erleben „französische Verhältnisse“ inzwischen auch in anderen Ländern, wie man bei der Landtagswahl in NRW gesehen hat, wo fast die Hälfte der Wahlberechtigten den Urnen fernblieb.

Doch das Konzept des reinen Machterhalts in der Politik wird nicht ewig gutgehen und birgt sogar mehrere Gefahren. Der Umstand, dass inzwischen gewählte Volksvertreter eigentlich nicht mehr demokratisch legitimiert sind, da man heute mit einem Bruchteil der wahlberechtigten Stimmen eine Wahl gewinnen kann, wird zur Folge haben, dass sich Politik immer mehr auf die Straße verlagert, wie man es in Frankreich seit 2018 mit verschiedenen, sehr aggressiven Sozialbewegungen sieht.

Die Parteien wären gut beraten, in den sauren Apfel zu beißen und sich tatsächlich neu aufzustellen. Sollten sie das noch länger vermeiden, könnte es gut passieren, dass sie keine Gelegenheit mehr dazu haben werden. In den letzten fünf Jahren sind in Frankreich sowohl die Linke, wie auch die konservative recht implodiert – was bleibt, sind linke und rechte extremistische Parteien, während das Zentrum vom „Sonnenkönig“ und autoritären Alleinherrscher Emmanuel Macron monopolisiert wird. Doch muss man sich die Frage stellen, wie die nächsten fünf Jahre in Frankreich aussehen werden.

Die ersten fünf Jahre der „Macronie“ waren eine politische Katastrophe, in der sich Frankreich massiv zum Schlechteren entwickelt hat und das liegt nur zu einem geringen Teil an Pandemie und Ukraine-Krieg. Die „Macronie“ verwandelt Frankreich gerade in eine Art parlamentarische Monarchie, was die Franzosen nicht sehr lange dulden werden. Aber offensichtlich haben es die Parteien und ihre Vertreter darauf abgesehen, dass das Ende der V. Republik und der Beginn der VI. Republik von Straßenschlachten und Blut begleitet werden. Denn das ist das Schicksal von Regierungen, die zum persönlichen Nutzen ein Land gegen die Interessen ihrer Bevölkerung regieren.

Frankreich, Mai 2022. Wir erleben den wohl jämmerlichsten Wahlkampf, den man sich vorstellen kann. Prognosen zu geben ist schwierig, doch einen Tipp kann man getrost abgeben – Wahlsieger wird erneut die „Partei der Nichtwähler“, die man irgendwann nicht mehr ignorieren kann. Und dann dürfte es ziemlich heftig werden in Frankreich.

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