Straßburg: Alarm im UNESCO-Bezirk

Wie die denkmalgeschützte Neustadt alt aussehen könnte: Eine riesige Parkgarage soll unter dem Universitätsplatz in der Straßburg entstehen. Noch ein Projekt der derzeitigen Stadtverwaltung, das ihren eigenen Anspruch konterkariert? Der Widerstand formiert sich.

Der Verein ADQIS will das Kulturerbe der Europahauptstadt retten. Foto: Association ADQIS

(Von Michael Mzgercord) – Eine große Tiefgarage an der nördlichen Peripherie der Altstadt war ein Wahlversprechen des Bürgermeisters Roland Ries aus dem Jahre 2014 an die Vereinigung der Geschäftstreibenden in der Innenstadt. Der geplante Ort des Parkplatzes wanderte einmal entlang der imperialen Tangente der Neustadt, nun soll er wohl unter dem Vorplatz des Universitätspalais entstehen.

Erst seit einem guten Jahr ist der Straßburger Stadtteil Neustadt in das UNESCO-Welterbe aufgenommen. Begründung: die zwischen 1880 und 1930 entstandene Vorstadt gilt als das einzige noch komplett erhaltene Ensemble der wilhelminisch-preußischen Gründerzeit. Dabei verdienen nicht nur die auffälligen Jugendstilelemente an den Fassaden Aufmerksamkeit, sondern vor allem die städtebauliche Anlage aus Repräsentativbauten und Wohnvierteln. Straßburg wurde damals zu einem “kleines Berlin” ausgestaltet und sollte als Vorzeigeort des sich gerade erst formierten Deutschen Reiches dienen. Vor allem in Richtung Frankreich.

Dass dieses einzigartige Stadtensemble bis heute erhalten geblieben ist, grenzt für den Wiesbadener Architekturhistoriker Klaus Nohlen an ein Wunder. Der Autor einer ersten Studie über die städtebauliche Politik in Straßburg zwischen 1871 und 1918 hat dabei vor allem die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Auge. Alles Deutsche sollte verschwinden, noch in den 50er Jahren sollte der Palais du Rhin abgerissen werden, galt die eklektizistische Architektur des einstigen Kaiserpalastes doch als Symbol des preußischen Hegemonialstrebens. Dabei war dessen Stilmischung schon bei seinem Bau Ende des 19. Jahrhunderts umstritten: den Abgeordneten des Berliner Reichstags erschien der Entwurf damals als “zu französisch” – oh, Wandel der Geschmacks- und Ansichtssachen.

Ein  besonderes Kennzeichen der Neustadt ist die Sichtachse zwischen Kaiserpalast und Universität. Während der sich damals langsam entwickelnde Privatverkehr nur die nördlich verlaufene Avenue des Vosges befahren durfte und die südliche Avenue de la Marseillaise öffentlichen Verkehrsmitteln vorbehalten war, blieb der heutige Avenue de la Liberté den Spaziergängern und Flaneuren überlassen. Den Bauherren, die dort ihre lukrativen Wohngebäude errichteten, wurde von der Stadtverwaltung die kostspielige Anlage von Vorgärten und Baumpflanzungen auferlegt. Und so entstand trotz einer Phase wilder Spekulation um die Grundstücke bis dahin einmalige “Promenadenstraße”. Einmalig ist sie danach auch geblieben, da vergleichbare Projekte etwa in Berlin-Treptow nie verwirklicht worden sind.

Anspruch und Widerspruch – Straßburgs Zentrum und die Neustadt sind aber noch in einer ganz anderen Hinsicht heute ziemlich einmalig. Im Zweiten Weltkrieg wurde die französische Stadt – obwohl seinerzeit dem Territorium des Deutschen Reiches zugerechnet – von den Flächenbombardements der Alliierten ausgenommen. Betrachtet man den spätmittelalterlichen Stadtkern und ihre gründerzeitliche Erweiterung als Ganzes, ist Straßburg heute die einzige intakt gebliebene deutsche Großstadt. In Deutschland erfuhren alle vergleichbaren Städte nach dem Krieg einen tiefgreifenden Wandel. Und wie kulissenhaft es wirkt, wenn man die alten Straßenzüge wiederherstellt ohne die dazugehörige Architektur, zeigt etwa das einstmals weltberühmte Achteck des Leipziger Platzes in Berlin. In Straßburg hingegen ist das komplette Ensemble erhalten geblieben, damit auch die bewusst angelegten Sichtachsen und architektonischen Übergänge zwischen Alt- und Neustadt. Mit der Aufnahme beider Stadtteile in die Welterbeliste verpflichtete sich die Verwaltung, diesen besonderen Charakter Straßburgs als Ganzes zu bewahren.

Stellt nun eine Tiefgarage mit 400 geplanten Stellplätzen mit etlichen Hundert Zu- und Abfahrten am Tag einen unzulässigen Eingriff in das Gesamtensemble dar? Wie in allen städtebaulichen Fragen, gibt es darüber unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe. So ist es für Pierre Bardet, dem Vertreter der innerstädtischen Geschäftstreibenden, “eine gute Nachricht”, wenn zusätzlich Parkplätze in der unmittelbaren Nähe der Altstadt entstehen. Bürgermeister Roland Ries hätte nun die Auflagen durch den Welterbetitel als Argument ins Felde führen können, dass er von seinem Wahlversprechen Abstand nehmen müsse. Doch laut seiner Aussage in der DNA glaubt er, dass letztlich weniger Verkehr weiter über die einstige Promenadenstraße rollen werde, wenn die Tiefgarage am vorgelagerten Universitätsplatz erst einmal in Betrieb ist. Damit würde dann auch ihr einstiger Charakter als Flaniermeile noch hervorgehoben.

Widerspruch Verkehrspolitik – Aber es regt sich Widerstand. Eine Gruppe von Anwohnern hat sich zur Initiative ADQIS zusammengetan, deren Abkürzung für “Verein zur Verteidigung des imperialen Viertels von Straßburg” steht. In Konferenzen und Stellungnahmen macht der Verein besonders auf die Widersprüche des Projektes zu dem von der Stadtverwaltung immer wieder formulierten Selbstbildnis aufmerksam: So präsentierte sich Straßburg in Frankreich lange Zeit als Modell für die Bevorzugung der öffentlichen Verkehrsmittel gegenüber dem motorisierten Individualverkehr. Eine Tiefgarage für Autos passe da kaum ins Konzept, zumal die bestehenden Großstellplätze in und um die Altstadt nur sehr selten vollends ausgelastet sind. Zudem werde die Autofahrt in die Innenstadt wieder attraktiver gemacht, was auch Konsequenzen für die Zufahrtsstraßen in der weiteren Umgebung hätte: Die Allée de la Robertsau könnte so zu einer “urbanen Autobahn” werden. Dabei kann man mit der Straßenbahn schon heute direkt vor die Tür der Geschäfte fahren, was auch die Forderung der Händler nach Stellplätzen in maximal 150 Meter Entfernung unsinnig werden ließe, zumal der geplante Parkplatz von den Autofahrern sogar einen Fußmarsch von mindestens 400 Metern einfordern würde.

Widerspruch Klimaplan – Die Politik in Straßburg hat den selbst gestellten Anspruch allerdings nie wirklich zu erfüllen versucht und sich zu einschneidenden Maßnahmen zur Begrenzung des Autoverkehrs durchgerungen. Eine Innenstadtmaut wie etwa in London, Stockholm oder seit Neustem Madrid stand nie zur Debatte, und das Hyperzentrum wurde immer noch nicht komplett zur Fußgängerzone umgestaltet. Auch der erhobene Vorwurf, der Bau der Tiefgarage widerspräche durch den Eingriff in das einstige Gartenkonzept der Promenadenstraße dem städtischen Diskurs über die notwendigen Maßnahmen gegen die Folgen des Klimawandels, läuft ein wenig ins Leere. Ein kohärentes Klimakonzept ist – folgt man der Einschätzung von lokalen Umweltverbänden – in Straßburg nicht auszumachen, weder eine Entkernung und Begrünung der Innenhöfe noch ein Ende der Flächenversiegelung in den Vorstadtvierteln sind in Sicht. Immerhin: Bürgermeister Ries versichert, für den Bau der Garage unter den Universitätsplatz würde kein einziger Baum gefällt werden. Allein es fehlt der Glaube. Martin Meyer von der Initiative ADQIS, verweist auf die Innenstadtplätze Kléber und Gutenberg, unter denen sich Parkgaragen befinden und wo sich seither nur noch “Spurenelemente von Grün” erblicken ließen.

Entschieden sei in der Frage noch nichts, heißt es aus dem Rathaus, und Roland Ries kündigte im September an, er wünsche zuvor “einen neutralen Blick auf diese Frage zu werfen”. Er beauftragte dafür eine Gruppe von drei unabhängigen Stadtplanern – Ergebnis steht noch aus. Die Frage, die sich aber schon jetzt stellt: Was überhaupt bedeutet “neutral”, wenn es urbanistische Projekte geht? Wie lassen sich die vielfältigen Besitzstrukturen und Lebensformen einer Stadt und gar ihre ästhetischen Bewertungen klassifizieren, um sie “objektiv” gegeneinander abzuwiegen? Welche Interessen, aber eben auch Empfindungen und Sinneseindrücke gelten überhaupt als abwägbar?

Widerspruch Identität – “Man darf nie die symbolische Dimension aus den Augen verlieren, wenn man an Orten eingreift, die historisch bedeutungsvoll sind”, sagte der Architekturhistoriker Richard Klein, Vorsitzender des nationalen Vereins Docomomo zur Bewahrung der Gebäude der Bewegung der Moderne, im Sommer auf einer Podiumsveranstaltung, die in der Universtät im Nachgang des Ausstellungszyklus’ “Labor Europas” stattfand. Die Ausstellung begleitete die UNESCO-Auszeichnung der Neustadt – und ADQIS entdeckt einen weiteren Widerspruch: Eine Tiefgarage stelle nicht nur einen Eingriff in das zu schützende städtebauliche Ensemble dar, sondern stehe auch im Gegensatz zur Symbolik des Welterbetitels. Der wird ja nicht vergeben, um Touristen anzulocken – was sich allerdings Städte immer davon erhoffen –, sondern den einzigartigen Charakter der baulichen Zeugnisse zu wahren und die Verbundenheit der Einwohner der Städte mit ihrer Geschichte zu stärken – und damit jenes zu stiften, was heute in den sich schnell wandelnden Zeiten auch gerne als “Identität” bezeichnet wird. Und wie viel die Symbolik eines Ortes zählt, musste der Straßburger Bürgermeister schon ganz am Anfang der Suche nach dem Standort für den Untergrundparkplatz erfahren. Da hatte er nämlich noch den Place de la République im Auge, doch der Verband der “alten Kämpfer” erhob – erfolgreich – Einspruch: das dort befindliche Mahnmal für die Kriegstoten dürfe doch nicht auf der Betondecke einer schnöden Tiefgarage stehen.

Verkehrskonzept, Klimapolitik und UNESCO – die Widersprüche des Parkplatzprojektes zum erklärten Anspruch der Stadt Straßburg, auf die die Aktivisten von ADQIS aufmerksam machen, mögen vielleicht bei einer “neutralen” Abwägung gewogen und entweder als leicht oder schwer befunden werden. Doch gibt es da noch etwas, was sich aber neutral oder objektiv gar nicht beurteilen lässt, und deshalb in den Diskussionen um Projekte der Stadtentwicklung bisher nur eine Nebenrolle spielt. Und trotzdem ist es etwas, das besonders schwer wiegt, wenn Bewohner aber auch Besucher sagen sollen, was sie an einer bestimmten Örtlichkeit schätzen; aber ist es auch das, wofür ausgerechnet Lokalpolitiker, folgt man den selbstkritischen Äußerungen des Kingersheimer Bürgermeisters Jo Spiegel, scheinbar keine tiefe Sensibilität haben; und doch es ist etwas, dessen Missachtung beim städtebaulichen Handeln aus Bürgern Wutbürger machen kann – was mag dieses gewisse Etwas sein? Die Schönheit!

ADQIS-Sprecher Martin Meyer erinnert dazu an die Tragödie um das Maison Rouge, das Rote Haus an der Westflanke des Place Kléber. Dort wurde Mitte der 1970er Jahre ein ungenutzter Hotelbau aus der Gründerzeit abgerissen und dafür ein deplazierter Plattenbau gesetzt – übrigens auch damals schon gegen den Widerstand weiter Teile der Bevölkerung. Und so könnte man die in den Broschüren des Fremdenverkehrsamtes beschworene Schönheit von Straßburgs Alt- und Neustadt auch als Symbol für die Frage sehen, warum es heute fast aussichtslos scheint, noch dauerhaft als schön empfundene Städte zu bauen? Was läuft schief – oder “neutral” formuliert: anders–, so dass in unserer Epoche kaum etwas geschaffen wird, das sowohl international bedeutend, aber gleichsam auch so einzigartig ist, dass es selbst mit einem Blick auch nur auf sein Abbild sofort einer geografischen Lage und kulturellen Identität zugeordnet werden kann? Man muss diesen Zuordnungsversuch nur einmal mit Ansichten von der Neubebauung an der Avenue du Rhin oder den Betonklötzen anderswo versuchen, um zu verstehen, was es mit der Begriff “Schönheit” auf sich hat, wenn er im Zusammenhang mit städtebaulichen Projekten fällt. Die Entscheidung um die Tiefgarage am Universitätsplatz in der Straßburger Neustadt wäre dann jedenfalls ganz schnell getroffen – zumindest, wenn man Martin Meyer folgt: “Es genügt doch nur ein wenig sensibel für die erhaltene Schönheit dieses Stadtteils zu sein, um von diesem Vandalenprojekt, das noch aus einer anderen Zeit zu stammen scheint, schockiert zu sein.”

Kontakt zu ADQIS: assocdqis@gmail.com
(Association pour la Défense du Quartier Impérial de Strasbourg)
Infos gibt es auf der Facebook-Seite des Vereins

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  1. Die echte Hauptstadt ist Grün | Eurojournalist(e)

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