Tanz über den Fluren der Macht (1/6)
Willkommen im Europaparlament - Wer sich auf den Fluren der Macht begegnet, begibt sich in eine Auseinandersetzung. Ausgetragen wird sie in einer repräsentativen Demokratie mit den Mitteln der Kommunikation – oder auf Fachidiotisch, der Politolinguistik.

(Michael Magercord) – Als vor fünf Jahren das Europäische Parlament zum letzten Mal zu seiner ersten Sitzung nach den Wahlen in Straßburg zusammentrat, haben wir an dieser Stelle die Abgeordneten begrüßt – und zwar mit einer Artikelserie über die vier Kardinaltugenden, die der römische Philosoph und Staatsmann Marcus Tullius Cicero im Todesjahr des Julius Cesar 44 v. Chr. allen Menschen anempfahl, die sich in öffentliche Leitungsämter drängen. Heute würde man solche Menschen als Politiker bezeichnen, und wir können nur spekulieren, welche der Damen und Herren Parlamentarier in der vergangenen Legislaturperiode ihre Amtsführung auch wirklich an dem altrömischen Wertekanon aus Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Weisheit ausgerichtet hatten.
Nichtsdestotrotz werden wir den jetzt frischgebackenen und den weniger frischen Abgeordneten zum Beginn dieses Mandates wieder einen wohlgemeinten Ratschlag mit auf ihren Weg durch die Institution geben. Dieses Mal allerdings wollen wir es nicht bei mehr oder weniger unverbindlichen Appellen belassen, sondern ihnen mithilfe der Wissenschaft beispringen.
Denn immer, wenn sich Menschen in einer Position befinden, in die sich ein gewählter Abgeordneter nun einmal begibt, stecken sie in dem unauflösbaren Dilemma: Menschen können handeln, aber müssen eben auch reden – doch beides, Handeln und Reden, vollzieht sich auf zwei voneinander scharf getrennten Ebenen.
Gehandelt wird ganz unten auf dem Terrain des Lebens, geredet naturgemäß in den höheren Sphären des Geistes, die man durchaus als abgehoben bezeichnen darf, ohne damit etwas Böses über das Reden gesagt zu haben. Schon über das Reden zu reden zeigt ja, dass Reden grundsätzlich in der Ferne angesiedelt ist – so, wie der Denker José Ortega y Gasset die Natur des menschlichen Lebens mit einer doppelten Partie verglich, die wir unser ganzes irdisches Dasein hindurch spielen: die eine als Überbietungswettbewerb der herbei geredeten Projekte, die andere in der wortlosen Auseinandersetzung mit der sperrigen Wirklichkeit.
Dass das Denken in den höheren Regionen angesiedelt ist, sich gar zu dem Allerhöchsten hinauf schwingen kann, wird sich ein jeder wohl denken können, sobald er einmal darüber nachdenkt, worüber er alles schon so nachgedacht hat. Aber zu erkennen, dass sich sein Gerede auch nur dort oben abspielt, fällt ihm schon schwerer. Daher allerdings rührt das ganze Problem mit der Diskrepanz zwischen Handeln und Reden – oder wie es der spanische Philosoph ausdrückte: eine gehobene Gesinnung ist nur dann von Vorteil, wenn man sich über die Unmöglichkeit, beides – die Sphären des Redens und Handelns – zur Deckung zu bringen, im Klaren ist.
Am Reden allerdings kommt kein Mensch vorbei, es sei denn, er geißelt sich mit einem Schweigegelübde. Und natürlich würde solch ein Fakir der Zunge in der Regel auch kein Abgeordneter werden. Denn dort, wo Abgeordnete nun einmal agieren, gilt es zuallererst zu reden. Parlamente – parler = sprechen – sind Orte des Palavers, die schon schnell mal in den Verruf geraten können, reine Quasselbuden zu sein. Und zwar dann, wenn ihre Mitglieder glauben, Reden sei Handeln.
Allerdings werden die Parlamentarier in ihrer Welt der Politik genau daran glauben – und auch glauben müssen, denn in einem Parlament ist Reden tatsächlich eine Handlung. Doch da sich, wie obig gesehen, Reden nun einmal in einer abgehobenen Sphäre vollzieht, vollzieht sich dort, wo Reden schon Handeln ist, auch das Handeln in derselben abgehobenen Sphäre.
Womit wir also in dem Dilemma angekommen sind, vor dem uns Señor y Gasset schon vor bald hundert Jahren eindringlich gewarnt hatte. Denn die Gefahren dieser angenommenen Gleichsetzung für das Gelingen von Kommunikation sind unabsehbar, wenn man sich nicht bewusst darüber ist, dass Reden und Handeln eigentlich zwei voneinander strickt getrennte Spielfelder sind. Doch sich darüber bewusst zu werden, ist zu allem Überfluss gar nicht so einfach.
Wir alle verspüren ja bereits die enormen Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen den Volksvertretern und ihren Wählern, aber auch der Politiker untereinander: Missverständnisse und Aneinander-vorbei-reden allenthalben. Deshalb ist es nun an der Zeit, die Wissenschaft zu bemühen. In diesem Falle ist die politische Sprachforschung gefragt, oder wie der noch junge Studienzweig akademisch korrekt heißt: die Politolinguistik.
Und obwohl dessen Forschungen erst wenige Jahrzehnte betrieben werden, haben sich die Schwerpunkte des Faches schon mehrmals verschoben. Zunächst wurden einzelne Worte auf ihre politische Bedeutung gewogen, dann ging es um ganze Texte, schon bald um mehrere gleichzeitig, was man als Intertextualität bezeichnet, um nun schließlich zur Transtextualität übergegangen zu sein, sprich zur übertextlichen Analyse von Kampagnen oder Diskursen.
Puh, das ist natürlich harter Tobak, vor dessen Genuss Politiker eigentlich nicht verschont werden sollten, wollen sie verstehen, was sie wirklich sagen, wenn sie reden. An den fünf folgenden Tagen, also während in der ersten Sitzungswoche des Europäischen Parlamentes, werden wir deshalb versuchen, uns unterschiedliche Redesituationen zur Analyse vorzunehmen. Natürlich beanspruchen wir an dieser Stelle keine wissenschaftliche Gründlichkeit. Wir möchten es hingegen den Damen und Herren Abgeordneten – und natürlich auch uns – ein wenig leichter machen, indem wir dem Text jedes Mal ein illustrierendes Foto voranstellen, aufgenommen auf den Straßburger Fluren der Macht.
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