Tanz über den Fluren der Macht (5/6)

Willkommen im Europaparlament - Wer sich auf den Fluren der Macht begegnet, begibt sich in eine Auseinandersetzung. Ausgetragen wird sie in einer repräsentativen Demokratie mit den Mitteln der Kommunikation – oder auf Fachidiotisch, der Politolinguistik.

Bewegung kommt in die Choreografie der Kommunikation. Die Grüppchen sortieren sich neu. Wer nimmt Reißaus, wer strebt anderen zu? Wie beginnt man ein Gespräch, wenn man sich noch nicht wirklich trauen kann? Besser erst einmal aneinander vorbeilaufen – aber immer in Rufweite. Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Und nun begeben wir uns auf ein Feld der Kommunikation, das uns leider nur selten ungeschminkte Einblicke gewährt. Wir wollen uns nämlich versuchen vorzustellen, wie sich die Kommunikation der Abgeordneten untereinander vollzieht. Also ohne mediale Beobachtung. Wenn sie unbeobachtet miteinander reden. Allerdings ist uns natürlich bewusst, dass wir eigentlich gar keine Chance haben, etwas darüber zu erfahren, denn wie will man etwas beobachten, obwohl man zu seinem Objekt gar keinen Beobachtungsposten einnehmen kann.

Somit bleibt uns an dieser Stelle nur, die Fragen aufzulisten, unter denen wir unsere Beobachtung vollziehen würden. So, wie ein Sprachforscher, der sich, um seine Studien wissenschaftlich gezielt vorantreiben zu können, zunächst einen Katalog der zu füllenden Wissenslücken zusammenstellt und daraus die entsprechenden Fragestellungen ableitet.

Nun wird ein Politolinguist natürlich ganz andere Fragen haben als wir. Viel ausgefeiltere, um etwa die Geheimnisse der innerpolito-politolinguistischen Transtextualität aufzuspüren. Die wird uns an dieser Stelle leider weiterhin ein Geheimnis bleiben, denn wir haben eigentlich nur eine Frage, die uns – um im Thema zu bleiben – auf der Zunge brennt: Benutzen die Damen und Herren Abgeordneten, wenn sie untereinander reden, dieselben, manchmal doch ziemlich sperrigen Worte und abgedroschenen Formulierungen, mit denen sie zu uns sprechen?

Sicher werden sie zueinander nicht sagen: „Das ist uns alles zu komplex“ oder „Wir müssen uns das noch einmal erklären lassen“. Dass etwas als so komplex bezeichnet wird, als dass man es den Menschen nicht oft genug besser erklären muss, gilt nur für die Außenkommunikation.

Wir würden aber doch gerne erfahren, in welchen Worten sie zueinander sprechen – oder zugespitzt gefragt: Gendern sie dabei, mit verschlucktem Sternchen oder Binnen-I etwa? Oder wiederholen sie bei jeder Gelegenheit Männlein und Weiblein fein voneinander geschieden? Passiert es ihnen, wenn sie untereinander über die NATO diskutieren, dass sie – wie es einem jungen, etwas überengagierten Politiker im öffentlichen Fernsehen widerfuhr – von „unseren Bündnispartnern und Bündnispartnerinnen“ sprechen? Und nennen sie sich in der Rückschau auf den Wahlkampf gar selbst „Kandidierende“ und verstolpern sich über ihre Zunge zu „Kandierten“? Ach ja, es wäre doch zu schön zu erfahren, wie viel politolingUnsinn*tistischer Gelierzucker vergossen wird, wenn’s politisch ans Eingemachte geht.

Wie gesagt, wir können darüber nur spekulieren. Aber immerhin, ein wenig kann man, wenn man sich diskret unter sie mischt, doch erfahren. Etwa im Fahrstuhl des Europäischen Parlaments auf dem Weg vom Plenarsaal ins Büro: „Waren Sie auch auf dem Bürgerfest? Ich fand es ja fad…“. In guter Erinnerung habe ich die Neujahrswünsche, die sich Monsieur Jean-Luc Mélenchon und Madame Marine Le Pen auf dem Wandelgang vor dem Plenarsaal zuhauchten, als die beiden französischen Parteiführer sich noch mangels einheimischen Mandats an den europäischen Fleischtöpfen der Abgeordnetenversorgung nähren mussten.

Besonders erbärmlich war das Zusammentreffen zweier deutscher Abgeordneter unterschiedlicher Fraktionen: „Wenn du jetzt nicht mit uns stimmst, dann stimmen wir nicht für deine Vorlage“. Nun könnte man zur Überzeugung gelangen, dass das Niveau der Verhandlungsführung auf einem Kamelmarkt irgendwo in der Wüste höher ist als auf diesen Fluren der Macht. Aber diese Sicht auf unsere Abgeordneten ist sicher ungerecht, viel eher darf man stattdessen freudig feststellen, dass es unter ihnen kaum anders zugeht wie zwischen mir und dir.

Aber dafür haben sie uns gegenüber einen Vorteil auf einer anderen Ebene. Ich nenne sie jetzt einfach mal die subtextuelle Ebene, wenn ich auch nicht garantieren kann, dass das tatsächlich ein politolinguistischer Begriff ist. Auf dieser Ebene zählen nicht die Worte oder der Text, sondern das gegenseitige Einvernehmen über die gemeinsame Sprechmotivation. Politiker mögen sich nicht besonders gut untereinander verstehen, aber übereinander wissen sie Bescheid. Sie wissen, warum sie sagen, was sie sagen. Denn alle haben dieselbe offen versteckte Botschaft, und sie heißt: Ich.

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