Tanzfieber erfasst Straßburg – auch nach dem 24. Februar

Straßburg ist aus dem Häuschen, Menschen tanzen sich in Trance. Öffentlich, auf der Straße. Die Stadtverwaltung weiß nicht mehr weiter, Ärzte finden keine Ursache. Wallfahrten sollen die Wütenden schließlich beruhigen...

Der mittelalterliche "Rave" zu Strasbourg gibt heute noch Rätsel auf... Foto: Pieter Bruegels der Ältere / 1564 / PD

(Von Michael Magercord) – Das ebenso Fatale wie Schöne an Geschichtsschreibung ist, dass man nie wirklich wissen kann, warum es so war, wie es war. Dafür darf umso mehr darüber spekuliert werden, warum es so gewesen ist. Aber die Quellen, werden die vermeintlich Wissenden einwenden, es gibt doch unumstößliche Zeitdokumente! Ja, die gibt es, aber sie liefern keine Erklärungen, warum etwas so war und nicht anders. So wenig nämlich wie wir heute schon wüssten, warum eigentlich alles so ist, wie es nun einmal ist.

Wie bitte, ich weiß nichts? Weder, warum es damals so war, noch warum es heute so ist, wie’s ist? Ratlosigkeit als Normalzustand? Um sich diese, für einen vernunftgeprägten Geist so erbärmlich klingende Erkenntnis besonders drastisch vor Augen führen zu lassen, hilft ein Gang ins Museum – und zwar in eines, worin uns unerklärliche Phänomene präsentiert werden, die schon als unerklärlich galten, als sie sich zutrugen.

Also auf ins Mittelalter, denn im Musée de l’Œuvre Notre-Dame in Straßburg ist das Tanzfieber ausgebrochen: 1518 hatte eine seltsame Tanzmanie die auf ihre schon damals aufgeklärten Geister doch so stolze Reichsstadt fest im Griff, zumindest wenn man den wenigen Quellen trauen darf, die das seltsame Ereignis belegen.

Am 15. Juli des Jahres tauchten die ersten Tänzer in den Straßen auf und den ganzen Sommer über schlossen sich weitere an. Sie schüttelten und zappelten sich in eine Trance. Ansonsten weiß man nicht sehr viel, es gibt kaum Zahlen, und die wenigen Quellen lassen nur vermuten, was alles vorgefallen war. Es sind Dokumente über Maßnahmen, die ergriffen wurden: Tanzverbot im Freien, keine Trommelschläge und Flötentöne mehr in Straßburg, nur liebliche Saiteninstrumente blieben erlaubt. Die Tänzer wurden als arme Gestalten geschildert, allerdings waren die Zünfte angewiesen, auf ihre infizierten Mitglieder mäßigend einzuwirken und dafür zu sorgen, dass sie wenigstens keine „schönen Kleider“ trügen. Schließlich kam den Ratsherrn die rettende Idee, sie organisierten wöchentliche Pilgerreisen zur Wallfahrtskapelle des Heiligen Veit bei Zabern. Die Tanzerei ging kam langsam an ein Ende, das aber ebenso unerklärlich blieb wie sein Anfang. Somit ist das einzige, was wirklich durch die Quellen gesichert scheint, die Ratlosigkeit der Zeitgenossen über ihre Zeitgenossen.

Die Ursachenforschung hat seither nicht mehr aufgehört. War es ein medizinisches Phänomen? Dafür gibt es keine eindeutigen Indikationen, weder Epilepsie noch der Verzehr von Mutterkorn – LSD – kommen infrage. Ist der Grund vielleicht ganz woanders zu suchen? Und zwar mithilfe der drei modernen Wissenschaften, derer wir uns heute bedienen, um dem Phänomen Mensch auf die Schliche zu kommen? Hatte das Getanze also wirtschaftliche Ursachen? Oder doch soziale? Straßburg war eine wohlhabende Stadt mit einem umfangreichen Hilfssystem für die Ärmeren. War es eher eine Psychose, ausgelöst etwa von einer überspannten Religiosität? Tanz galt zwar den Frommen als Narretei, als Form des Kontrollverlustes, trotzdem schritt die Kirche – soweit das nachvollziehbar ist – nicht gegen den Spuk ein, sondern die weltlichen Behörden.

So mag uns dieses ferne Beispiel der Ratlosigkeit des Menschen über den Menschen lehren, dass wir weder mit Psychologie und ihrer Lehre vom Einzelnen noch mit Soziologie und ihrer Lehre von der Gesellschaft dem Unerklärlichen näher kommen – und schon gar nicht mit Ökonomie. Die ist nämlich die esoterischste unter den drei modernen Menschenerklärungswissenschaften, und zwar deshalb, weil sie als besonders exakt daherkommt. Doch gerade weil der Mensch nicht nur in dieser Welt Zuhause ist, sondern vornehmlich in seinen Empfindungen, Vorstellungen und Ideen lebt, ist die Ökonomie in heutigen Zeiten, in denen wir das Exakte zum Glaubendogma erhoben haben, so erfolgreich bei der Gestaltung unserer Lebenswelt.

Doch alle Exaktheit hilft nichts, denn wirklich erklären vermag die Ökonomie uns den Menschen nicht – und all die anderen Wissenschaften auch nicht. Sie taugen weder zur Geschichtsschreibung noch zur Gegenwartsbeschreibung. Diese ratlose historische Rückschau auf eine einstige Ratlosigkeit könnte uns aber die Augen öffnen für unsere gegenwärtigen Ratlosigkeiten. Wie bitte, wir sind doch gar nicht ratlos? Na, dann machen wir uns mal den Spaß und wagen einen Vergleich. Nein, nicht, dass man jetzt eine – wenn auch ziemlich offensichtliche – Parallele zu heute zieht und darüber brütet, was bloß diesen samstäglichen Veitstanz auf französischen Verkehrsinseln, der nun in die vierzehnte Woche geht, ausgelöst hat. Oder sich gar in den Gedanken versteigt, zu dessen Beruhigung würde es beitragen, wenn all die fiebrigen Franzosen stattdessen an den samstäglichen Pilgerzügen von Straßburg nach Kehl zu Aldi, Kaufland und Co. teilnähmen.

Hilfreicher, als derartige historische Analogien zu konstruieren, ist es aber, einmal unsere eigene Zeit bereits als geschichtliche Epoche zu betrachten und einen ratlosen Rückblick auf die Gegenwart zu werfen. Besuchen wir also schon heute die Ruinen der Zukunft: lassen wir den Wind durch die kläglichen Reste unserer einstigen Einkaufsparadiese pfeifen und diestelartige Gestrüppballen über versandete Verkehrskreisel jagen. Wer sich nun endlich wundert, wie diese Abscheulichkeiten jemals unsere Umwelt so nachhaltig prägen konnten und warum Beides, Shoppen und Autofahren, derart lebensbestimmend wurde, ist schon mittendrin in dem Experiment, einen neuen Erklärungsansatz für die gegenwärtigen Verwerfungen zu suchen: Einen, der über die üblichen ökonomischen, sozialen und psychologischen hinausgeht; einen, der gerade dadurch, dass er nicht vorgibt exakt zu sein, weniger esoterisch ist.

Nur worin könnte der liegen? Sind es diese hässlichen Abscheulichkeiten, die unsere Gesellschaften letztlich so in Rage versetzen? Könnte ein aktueller Katalog der Abscheulichkeiten die Gegenwartsbeschreibung zu einem Früherkennungssystem für zukünftige Verwerfungen werden lassen? Bis soweit ist, werden die weiterhin ungebremst wuchernden Abscheulichkeiten allerdings noch weitere Verwerfungen hervorrufen, gegen die eine eigene Art von Tanzfieber ein dann nur allzu verständlicher Akt der Befreiung ist – und selbst, wenn man als erregter Zeitgenosse noch gar nicht so recht begreift, worüber man eigentlich so erzürnt ist.

1518 – das Tanzfieber
Musée de l’Œuvre Notre-Dame Strasbourg
Ausstellung im Museum für die Kunst des Mittelalters
noch bis 24. Februar

Alle Infos finden Sie hier!

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