Tarzan an der Motorliane

Wann ist ein Mann ein Sensenmann?

Kreiselndes über dem Rasen. Foto: Arne Bicker.

(AB) – Manche Männer sind Weicheier. Ich gehöre dazu. Wenn ich auf meine Terrasse hinausgehe, grenzt das für mich an eine Expedition in die Wildnis. Für mich als Städter ist die versiegelte Fläche das Terrain meines Vertrauens. Doch dann das: Mein schlechtes Gewissen nagte an mir. Und meine längst in Vergessenheit geratene Lebensberaterin, die Natur, nuschelte mir unverblümt ins Ohr: Tarzan oder Marzipan?

Das Gras im Garten vor meiner Terrasse war so weit ins Kraut geschossen, dass die Zuständigkeit meines Rasenmähers erloschen war. Missmutig hockte der im Schuppen. Missmutig hockte ich auf der Terrasse, mit Blick auf mein ganz persönliches Dschungelcamp: Hüfthoher Rasen, durchsetzt mit Brennnesselwäldern, von oben herunter hängendes Gewusel aus irgendwelchen Sauerkrautbäumen, dazwischen stehende Luft, so schwer wie Schiffsdiesel.

In mir regte sich etwas Genetisches. Als Mann musste ich der Provokation dieses unkontrollierten Wildwuchses entschieden entgegentreten. Bevor mir mein Rasen die Sonne verdunkeln und irgendein grüner CDU- oder christlich-demokratischer Grünen-Politiker ein Windrad in die Brache rammen würde, war mein alternativloses Handeln gefordert. Nur gut, wenn man die richtigen Leute kennt, dachte ich.

In meinem Falle war das ein Freund mit einer Motorsense. Nennen wir ihn Edward. Edward brachte mir seine Kolbenhubmaschine persönlich vorbei und zeigte mir die Schnur, an der ich ziehen solle, damit der Motor anspränge. „Hau rein“ – das war sein Abschiedsgruß. Ich nahm einen tiefen Blick auf das Gerät und verstand: Jedes weitere Zögern würde fatal sein. Dieses hochmoderne Werkzeug war für mich gemacht. Wir gehörten zusammen, es und ich, vereint im Kampf gegen die fatalerweise dereinst selbstgesäten Invasoren. Jetzt, sofort.

Also band ich mir die zugehörige, schwarze Sensenmannweste um, die vom Schweiß tausender vorangegangener Mannstunden porös war wie ein vertrockneter Autowaschchwamm und die mein nunmehr akut bedrohtes Safarigras schon allein geruchlich dazu brachte, sich angstvoll zurückzulehnen. Ein erster Teilerfolg.

Hier Start. Da Ziehen. Der Motor. Unscheinbar klein wie in einem Modellflugzeug und am Ende der Sensenstange direkt rechts neben meinem Kopf schwebend, erwachte das sofort als sträflich unterschätzt gebrandmarkte Monstrum zur Furie wie zehntausend Wespennester im Weltuntergang. Fünf Millionen Dezibel prügelten auf mein rechtes Ohr ein und ließen jede Techno-Disko als klösterliches Schweigerefugium im Moor meiner Erinnerungen versinken. Doch dem Lärmschmerz konnte ich die gebührende Aufmerksamkeit nicht zollen.

Es begann ein Rasen über dem Rasen. Fliehkräfte zerrten an mir wie Wurmlöcher, mutwillig an- und abschwellende Vibrationen prasselten auf all meine Körper-Umwelt-Schnittstellen ein wie nordkoreanisches Astronautentraining, während am unteren Ende der gen Rasen geneigten Zentralröhre ein mutmaßlich oberschenkeldicker Nylonfaden mit sieben Millionen Umdrehungen pro Tausendstelsekunde die mir aus den Zähnen hüpfenden Füllungen noch vor dem Bodenkontakt pulverisierte.

Aus der Rasenmitte erhob sich zaghaft eine weiße Fahne, welche sich die Höllenmaschine tiefenunentspannt als erstes zum Fraß vornahm. Derart angefüttert entfesselte sich ein Grashalmmassaker, indem mich die sinfonische Teufelsröhre wie zwei angeleinte Dänische Doggen nach einem Tabascoeinlauf willkürlich und sprunghaft durch meinen botanischen Albtraum zerrte, mal hier-, mal dorthin, ein lupenreiner Akt der Anarchie, weil systemfrei, nachweislich.

Meine wie dünnes Fensterglas unter Raketenbeschuss zersplitternden Gedanken, nur noch halbgar wie zerhäckselte Muränen aus unfreiwillig Pogo tanzenden Synapsen lodernd, kreisten mit dem rotierenden Ungeduldsfaden um die Wette: Wann würde das Benzin zur Neige gehen, mir den ultimativen Grund liefernd, die schmerzgeplagten Schultern sinken zu lassen und den sinnlosen Kampf gegen die in Überzahl befindlichen Aggressoren Sense, Rasen und Fliehkraft durch einen kontrollierten Rückzug in Richtung Dusche und Kühlschrank zu beenden?

Ich unterdrückte den Fluchtimpuls mit letzter, inzwischen motorbetriebener Willenskraft: Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Aber nein, ich dachte nicht mehr, ich war nur noch. Diabolische Dezibel wüteten, als das Modellflugzeug wie eine gestörte Schmeißfliege um meinen Kopf raste, die Auspuffgase fraßen sich blausäurig in sämtliche Atemorgane und der berserkernde Ariadnefaden schleuderte mir Grasfetzen, Samen, zerfledderte Hamsterleichen und Aststücke in die Nasenlöcher und gegen die komplette Körpervorderseite, als führe ich in einem Cabrio ohne Frontscheibe mit zweihundert Sachen in einen entgegenkommenden Heuschreckenschwarm von der Größe Dortmunds.

Soweit. Noch weitschweifigere Schilderungen möchte ich Ihnen und mir aus Gründen der vorausschauenden Traumabewältigung ersparen. Nur so viel: Bereits wenige Therapiesitzungen später konnte ich wieder meinen Wagen anlassen, ohne dass meine Zähne unkontrolliert aneinanderschlugen. Und bald, sehr bald, werde ich auch wieder die Terrasse betreten. Und regelmäßig meinen Rasen mähen, von mir aus auch samstags. Denn ein Gutes hat die ganze Geschichte: Die Antwort auf die Frage, wie man zum Wimbledonrasenspießer wird, hat sich mir jetzt erschlossen.

 

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