Tränen der Siegesgewissheit – „Carmen“ in der Rheinoper

Carmen, die Geschichte um die feurige Zigeunerin, Don José und den stolzen Torero, ist die Adventsoper in Straßburg. Ob diese Geschichte voller Klischees noch einfach so erzählt werden kann? Oder doch einer Überarbeitung bedarf? Die Rheinoper wird zur Arena.

Eine Träne für Carmen und die Freiheit. Foto: Rheinoper Straßburg OnR

(Michael Magercord) – Gemüter sind zart, zarter denn je. Um so mehr bedarf es der Rücksichtnahme. Allerdings ist nicht mehr so eindeutig, wo die Grenzen der Verletzlichkeit verlaufen. Müssen wir uns ängstigen vor Figuren aus altbekannten Opern, die sich auf der Bühne aus lauter Liebe gegenseitig an die Gurgel gehen? Oder eher um die Zuschauer, die in der Darstellung der Klischees aus früheren Zeiten nun ihre gegenwärtigen Empfindungen verletzt sehen mögen?

Was angesagt ist, wenn die Schwiegermutter naht, wissen wir spätestens seit der größte Hit aus der Oper Carmen von Georges Bizet in die rührige Welt der Klischees des deutschen Schlagers überführt wurde: Mit einem „Auf in den Kampf“ auf den Lippen stärkt sich seither die Volksseele vorm siegesgewiss klappernden Gebiss unter der Melodie des Marsches der Toreros. Man weiß es ja nicht erst seit Dr. Freud: Den tief sitzenden Ängsten kann man mit Witzen beikommen – und die hatten noch gut Lachen damals in den 1960er Jahren…

Natürlich waren auch schon neunzig Jahre zuvor etliche Klischees am Werk, als der französische Komponist nach seiner unsterblichen Melodie iberische Stierkämpfer in die Arena von Sevilla einziehen ließ, um darin ihrem tödlichen Handwerk nachzugehen. Und doch konnte er nicht ahnen, dass dieser Marsch schließlich eine der am häufigsten nachgeträllerten Weisen aus einer der meistgespielten Opern aller kommenden Zeiten werden sollte.

Wie so oft lag nämlich das Premierenpublikum daneben, als 1875 die Pariser Operngänger die „Carmen“ nur lau aufnahmen. Allerdings sollte auch sein Schöpfer den Triumphzug des Meilensteins der Operngeschichte durch die halbe Welt nicht mehr erleben: Nur 36-jährig starb Bizet drei Monate nach der Uraufführung an einem Herzanfall. Doch nur wenig später fand sein Werk begeisterte Kritiker, unter ihnen gestandene Komponistenkollegen und sogar der Philosoph Friedrich Nietzsche. Ausgerechnet Nietzsche, dieser Schwerenöter und Kritiker der Moderne, die ihm einfach nicht modern genug war, liebte diese Oper – vielleicht, weil die Rollen so menschlich-allzumenschlich daherkamen? Da ist die Zigeunerin, feurig und freigiebig zugleich; der verliebte Soldat, der ein wenig schlicht in den Mitteln seiner Kummer- und Ehrverletzungsbewältigung ist und darüber zum Messerstecher wird; und der, na klar: stolze Torero, der die Herzen der Frauen bricht, wenn er in der Arena zusticht.

Spanien in den wüstesten Klischees – wie kann man dieses Szenario noch inszenieren, ohne diesen vorgeprägten Bildern zu verfallen? Ausgerechnet heute, wo doch jedes bemühte Klischee als Affront gegen identitäre Empfindlichkeiten gewertet wird und hinter seiner unbeschwerten Darstellung böse Absichten vermutet werden. Wie entgeht eine Inszenierung der Angst vor dem Zuschnappen der Klischeefalle? Verführerische Zigeunerin, blutiger Stierkampf – sollte man da nicht gleich ganz nach neuester Manier das Übel an der Wurzel packen und die schlimmsten Übel-Bleibsel unsensibler Zeiten ausmerzen, zu denen natürlich auch das klischeebehaftete Personal von Opern gehören? Jetzt also schleunigst das Werk umgestalten, sodass ihre Neuaufführung keine heutigen Sensibilitäten verletzt und dazu auch noch vegan ist…

Die „Carmen“, die nun ab dem 2. Dezember in der Rheinoper von Straßburg zu sehen sein wird, entzieht sich den neuerlichen Diskursen, denn sie hat bereits zehn lange Theaterjahre auf dem Buckel und ist hoffnungslos veraltet – und fast möchte man sagen: Gott sei Dank! Dass einem diese Inszenierung von Jean-François Sivadier trotzdem so gar nicht Spanisch vorkommt, ist vielleicht eher Dr. Freud geschuldet. Denn der Angst, in Klischees zu verfallen, entgegnet der Regisseur durch eine Technik, die leider in den heftigen Debatten unserer jüngsten Zeit so gut wie abhandengekommen ist: mit Humor.

Humor herrscht ja nicht nur, wenn die Schwiegermutter naht. Auf humorige Weise Ängste zu besiegen, dazu muss man keine Witze reißen – und schon gar nicht im zeitgenössischen Theater, in dem der Regisseur beheimatet ist. Für die Oper Lille hat er diese Carmen in ein schlichtes Kostüm gesteckt und Sevilla in eine Brettersiedlung verwandelt. Darin aber wirkt die tragische Essenz der Geschichte um das Freiheitsstreben der Frau und ihren hörigen Männern nur noch konzentrierter, und die kurzen Momente der Leichtigkeit umso leichter und befreiender. Fern aller Klischees – oder ist es vielleicht gerade doch wieder eines? – ist Carmen das Symbol einer lautstark eingeforderten, kompromisslosen weiblichen Freiheit, und mehr noch: der Freiheit an sich – und die geht, wie wir in Pandemiezeiten einmal mehr lernen, natürlich auch immer ein wenig mit Rücksichtlosigkeit einher.

Übrigens: Den Taktstock wird in der Rheinoper eine Frau schwingen, die einen erstaunlichen Weg gegangen ist. Die gebürtige Polin Marta Gardolińska ist in ihrem parallelen Leben Hochleistungssportlerin, Leichtathletik und Schwimmen, konzentrierte sich aber schließlich auf ihre zweite Leidenschaft, die Musik. Sie studierte in Wien das Dirigentenfach und wurde mit nur 32 Jahren zur Chefdirigentin der lothringischen Oper in Nancy ernannt. Sport und Musik – die Parallelen (http://eurojournalist.eu/thet-hao-va-van-hoa-philharmonie-goes-racing/) im Profibereich beider Übungen liegen auf der Hand – und die Technik zur Bewältigung des Stresses und der Angst vorm Wettbewerb und dem großen Auftritt ist für Marta Gardolińska dieselbe: konzentriertes, beruhigendes Atmen, das in unserem Innern die harte Wirklichkeit entstresst – so geht’s natürlich auch.

CARMEN – Oper von Georges Bizet
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy.
Uraufführung 3. März 1875 an der Opéra-Comique in Paris.

Dirigentin: Marta Gardolińska
Regie: Jean-François Sivadier
Symphonieorchester Mülhausen
Chor und Kinderchor der Rheinoper

Straßburg – Opéra
DO 2. Dezember 20 Uhr
SA 4. Dezember 20 Uhr
MO 6. Dezember 20 Uhr
MI 8. Dezember 20 Uhr
FR 10. Dezember 20 Uhr
SO 12. Dezember 15 Uhr
MI 15. Dezember 20 Uhr

Mülhausen – La Filature
FR 7. Januar 20 Uhr
SO 9. Januar 15 Uhr

Informationen und Tickets: www.operanationaldurhin.eu

Weiteres Konzert:
Rezital Lawrence Brownlee (Tenor)
Von Spiritels bis Rossini und Ginastera
Oper Straßburg
DI 14. Dezember 20 Uhr

HINWEIS:
Corona ist leider nicht besiegt, deshalb der gewohnte Hinweis: Bislang gilt bei Kulturveranstaltungen in Frankreich noch 3G. Sollte sich das ändern, dann erfolgt – wie nun leider auch schon gewohnt – in der Kommentarzeile zu diesem Artikel so zeitnah wie möglich ein erneuter Hinweis.

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