Triebpsychologie auf offener Bühne – „So machen es doch alle“ in der Rheinoper

Noch drei Opern werden in dieser Saison über die Bühne von Straßburg gehen: Mozart, Monteverdi und Bernstein. Drei Anlässe für den Versuch, sich auch in angespannten Zeiten entspannt in den Theatersessel fallen zu lassen – ab Donnerstag zu „Così fan tutte“.

Spiel Satz und Sieg in der Liebe - wenn Mozart aufschlägt, kommt es am Ende immer zum Tiebreak, so auch bei "Cosi fan tutte" in der Rheinoper. Foto: Illustration von M.Grandjouan / OnR Strasbourg

(Michael Magercord) – Am 29. April werden wir es erfahren: Wie kann sich die Oper an der Anprangerung und Verurteilung von Unterdrückung und Unrecht beteiligen? Den ganzen Tag lang werden Wissenschaftler, Opernleiter und sogar ein Komponist in der Universitätsbibliothek von Straßburg die Wirkung des Singspiels in den alten und den neuen Kämpfen gegen Diktatur, Rassismus, Sklaverei und Antisemitismus ausloten. Bis dahin werden wir allerdings noch einmal selbst sehen müssen, ob auch unser bloßes Zuschauen einer Oper schon ein politischer Akt ist. Und das ausgerechnet bei Mozarts Spiel um die Liebe, in der ja bekanntlich alles erlaubt ist und es auch alle so machen – „Così fan tutte“ eben.

Eines kann man sicher schon jetzt sagen: Ein vergnüglicher Abend in der Oper ist zumindest nicht unbedingt ein unbeschwertes Vergnügen in Zeiten, die so schwer daherkommen wie die unsrigen. Ob er aber auch gleich eine politische Verlautbarung beinhalten muss? Ohne der Konferenz vorgreifen zu wollen: Oper konnte schon immer mehr, als kämpferisch eine politisch halbwegs korrekte Stellung zu beziehen. Mit ihr kann man nämlich ergründen, warum die Zeiten so sind, wie sie sind – oder wenigstens ein wenig „Erfahrungsseelenkunde“ betreiben und den Gesetzen der „Physik der Sitten“ – wie die Gemütsforscher ihre Wissenschaft nannten, bevor sie Psychologie heißen durfte – auf die Spur kommen. Die Oper kann uns also helfen zu verstehen, wie es dazu kommt, wozu es kommt. Und kaum etwas bedürften wir gerade mehr, wollen wir doch wissen, was denn bloß in Köpfen derer vor sich geht, die jene tragischen Ereignisse auslösen, denen Unsereins schließlich ausgeliefert wird.

Kreml-Astrologie wurde in den seligen 60er Jahren betrieben, um herauszufinden, was wohl in den Führungskreises der Sowjetunion vorgeht. Heute gebrauchen wir die Psychologie: Ist der aufgedunsene Kremlbewohner Nummer Eins komplett durchgedreht? Todkrank und deshalb hochgradig geschichtsbuchsüchtig? Oder einfach nur eiskalt? Und wie steht es um seine Entourage? Diese fast schon komischen Gestalten, die er um lange Tische herum drapiert. Wie weit werden sie gehen in ihrer Verbundenheit oder Abhängigkeit?

Vielleicht braucht man zum Verständnis unserer Zeit neben der Psychologie noch eine ganze Portion Instinkt- und Triebforschung. Folgen nicht all diese hochambitionierten Menschen, die – egal wo – unbedingt zu mehr oder weniger großen Führern aufsteigen wollen, ihrer Triebsteuerung? Ist es nicht, wie es der Verhaltensforscher Konrad Lorenz so treffend in seiner Studie „Das sogenannte Böse“ über die Aggression im Tier- und eben auch Menschenreich beschreibt: dass sich nämlich all die politischen Systeme, all die Militärstrukturen, all die nationalistische Kampfes- und Heldenrhetorik entwickelt haben, damit sich der in uns nun einmal unauslöschlich verankerte Aggressionstrieb austoben kann? Der Wissenschaftler zitierte vor sechzig Jahren zur Untermauerung seiner These ein ukrainisches Sprichwort: „Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete“.

Und wo stehen wir in dieser Realtragödie? - Wir, die wir uns doch zunächst als Zuschauer sehen. Aber ach, nun werden wir zu Akteuren im Spiel, nun ziehen wir einen Pullover über, sparen Sprit und sind sogar für eine zumindest halbwegs ernsthaft gemeinte Debatte über das kollektive Langsamfahren zu haben. Was als Preis für den Klimaschutz noch zu hoch erschien, ist plötzlich im Bereich des Machbaren angekommen – und alles nur wegen unserer eigenen Urtriebhaftigkeit. Ja, nicht nur der Irre im Kreml unterliegt den Trieben, auch wir selbst. Denn wenn wir nun einem ausgemachten Bösewicht direkt eins auswischen können, stehen wir bereit in – wie Konrad Lorenz so schön die Parallele zwischen einem imponiergebahrenden Schimpansen und einem heldenmütigen Menschen zieht – „straffer Körperhaltung, die Arme seitlich angehoben und ein wenig nach innen rotiert, sodass die Ellenbogen nach Außen zeigen“, auf dass man mächtiger wirkt als man ist. Aber wenn die Herausforderung so ungeheuer bleibt wie beim Klimawandel, dem nur über den Verstand beizukommen wäre – vor wem könnte man sich da schon aufplustern, als gegenüber einem selbst…?

Hilfe, Mozart, übernehmen Sie! Bringen Sie wieder Ordnung ins Hirn! Die Opernbühne soll die Küche sein, in der wir auf die Couch gelegt werden. Sicher, es scheint, als erforsche Mozart in seinen Werken immer nur die Liebe, aber wie sagte schon Konrad Lorenz: Ohne den Urtrieb der Aggression gäbe es keine ihn zügelnde Liebe und keine Liebe ist ohne Aggression. Und niemand könnte uns das besser vor Augen führen, als der durchtriebene Don Alfonso aus Mozarts Oper „Così fan tutte“. Er weiß nicht nur, wie sehr die Frauen lieben können, sondern auch wie lange. Ihrer Treue gibt der geübte Zyniker höchstens vierundzwanzig Stunden. Und Mozart braucht wiederum knappe drei Stunden, um zu beweisen, dass beides zusammengehört: Die Liebe und die Treulosigkeit.

Um seine These zu beweisen, bietet er den beiden Soldaten Ferrando und Guglielmo eine Wette an: Ihre Verlobten Dorabella und Fiordiligi wird er einem Treue-Experiment auszusetzen: Die Soldaten tauschen ihre Identität und werden lernen müssen, dass sich ihre jeweilige Liebste schon bald dem jeweils anderen an den Hals werfen wird. Denn nicht nur, dass Frauen ebenso untreu sein können wie Männer, will er beweisen, sondern dass die Menschheit eben so beschaffen ist, wie sie ist: triebhaft und geschwätzig. Die vielen hehren Worte, die die Menschheit machen, gelten ihr im Grunde nichts. Zwischen Zeilen und vor allem in ihren Gesten muss man lesen können, will man ihre wahre Natur ergründen.

Ist Don Alfonso ein Misanthrop oder eben doch ein großer Aufklärer? Gehört er nicht auch auf die Couch, die auf der Bühne steht? „Welch töricht Begehren, die Wahrheit zu hören ist immer bedenklich, erfreulich wohl nie“, warnt er uns vor seinem entlarvenden Aufklärungsdrang. Das „Zeitalter des Lichts“, wie die Epoche der Aufklärung, in der sein Experiment möglich war, auf Französisch heißt, wirft lange Schatten. Und zwar auf uns, das armselige Menschlein. Und auf Alfonso selbst, den vermeintlichen Rechthaber, der doch den Grund für sein eigenen Versagens im Ringen um die Liebe woanders sucht, als bei sich.

Welch Pein es doch bereiten kann, hinterrücks auf die Couch gelegt zu werden. Und welch Freude, als Unbeteiligter dabei zusehen zu können. Aber Vorsicht: Es gar keine Unbeteiligten. Weder in der Oper, noch in der Welt da draußen. Das bloße Zuschauen ist Beteiligung – was wir beim Klimawandel zwar heimlich ahnen, uns aber in Kriegszeiten nur allzu deutlich vor Augen geführt wird.

Man verzeihe diese Gleichsetzung grässlicher Menschheitskatastrophen und dem amüsanten Spiel um Liebe und Treue einer Oper, in der sich Leichtsinn, Tiefsinn und Frohsinn die Waage halten. Auf der Bühne wenigstens gibt es ein eindeutiges Ende und eine gesungene Botschaft: Glücklich sei der Mensch, der alles nur von der besten Seite nimmt und trotz der Wechselfälle des Lebens, über die er lacht, die Ruhe bewahrt – und sei es nur darüber, dass wir nun einmal so sind, wie wir sind. Denn schon die bewahrte Ruhe bewahrt uns davor, triebgesteuert – wie wir nun einmal sind – auf die Trompeten zu hören, die doch nur zum Kampf blasen. Und vielleicht gilt genau diese friedenssatte Logik auch für die Welt da draußen: Sich auf ein gutes Ende freuen, ist – so unwirklich und geradezu frivol sich das im Moment anfühlen mag – erste Menschenpflicht. In diesem Sinne und trotz alledem schon an dieser Stelle: Viel Vorfreude!

Così fan tutte
Oper von Wolfgang Amadeus Mozart aus dem Jahr 1790

Dirigent: Duncan Ward
Regie: David Hermann
Philharmonie Straßburg OPS
Chor der Rheinoper

Straßburg – Opéra
DO 14. April, 20 Uhr
SA 16. April, 20 Uhr
DI 19. April, 20 Uhr
DO 21. April, 20 Uhr
SO 24 April, 15 Uhr
DI 26. April, 20 Uhr

Mülhausen – La Sinne
FR 6. Mai, 20 Uhr
SO 8. Mai, 15 Uhr

Colmar – Théâtre municipal de Colmar
SO 15. Mai, 17 Uhr

Informationen und Tickets: www.operanationaldurhin.eu

Weitere Veranstaltungen in der Oper Straßburg:

Mittagskonzert mit Musikern des OPS
Gefährliche Liaison – Kammermusik von Mozart, Janáček, Piazzolla
MI 20. April, 12.30 Uhr

Rezital mit Karine Deshayes (Mezzo-Sopran)
Lieder von Spohr bis Duparc begleitet von Klavier und Klarinette
DO 28. April, 20 Uhr

Konferenz (auf Französisch)
„Die Verurteilung von Unterdrückung und Unrecht in der Oper“
Auditorium der Universitätsbibliothek BNU
FR 29. April ab 9.00 Uhr
www.bnu.fr

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