TTIP und CETA: Es geht nicht nur um die Wurst im Kühlregal

Handel ist eine feine Sache, aber mit dem geplanten TTIP liefert sich Europa den Amerikanern aus. Foto: Clipper / Wikimedia Commons

Nutzen Sie Ihre Stimme für Europa!

(Von Georg Kleine) – Das Europaparlament holt die europäische Politik wieder näher an die Menschen heran und bewies bei wichtigen Entscheidungen zuletzt mehr Einfluss als je zuvor. Grund genug also, dass Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Stimme für Europa am 25. Mai 2014 vor allem dafür nutzen, ihren Interessen Gewicht zu geben. Aus Verbrauchersicht geht es um viel: um das Fleisch im eigenen Kühlschrank, den Honig im Glas, die Qualität des Trinkwassers im Boden, den Strom aus der Steckdose, das Geld auf dem eigenen Konto, den Schutz persönlicher Daten im Netz.

Im Vorfeld der Europawahl kamen bemerkenswert viele Verbraucherthemen auf den Tisch, könnten aber „rechtzeitig“ zur Wahl wieder von der Bildfläche verschwinden.

So drohen durch zwei geheim verhandelte Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA (TTIP) und zwischen der EU und Kanada (CETA) ernstliche Folgen für europäische Verbraucherinnen und Verbraucher durch die gegenseitige Anerkennung u.a. von lebensmittel- und chemikalienrechtlichen Sicherheits- und Prüfstandards. Dies könnte möglicherweise die Einfuhr von hormonbelastetem oder in Chemikalien gebadetem Fleisch sowie gentechnisch veränderter Lebensmittel in die EU zur Folge haben. Unternehmen sollen nach dem derzeitigen Text beider Abkommen in den Genuss kommen, teilnehmende Staaten vor internationalen und durch führende Wirtschaftskanzleien besetzten Schiedsgerichte auf milliardenschwere Schadensersatzsummen zu verklagen, wenn verbraucher- und umweltschützende Gesetze ihre Gewinne beeinträchtigen. Dies dürfte sich auf progressive Gesetzesinitiativen lähmend auswirken. Dem Trinkwasserschutz dienende Verbote und Moratorien der umstrittenen Fördermethode sogenannten „Schieferöls und -gas“ aus tieferen Gesteinsschichten unter Hochdruck-Einsatz von Chemikaliengemischen (sog. Fracking) könnten durch entsprechende Regelungen in beiden Abkommen ausgehebelt werden.

Gleiches gilt für Regulierungsmaßnahmen im Kapitalmarktbereich. Bestehende oder geplante Verbote risikoreicher Finanzdienstleistungen und -produkte, aber auch eine Finanztransaktionssteuer stünden der im Rahmen der TTIP-TAFTA-Verhandlungen forcierten Liberalisierung und Deregulierung entgegen.

Zumindest das Abkommen mit den USA bezweckt als ein auf die Zukunft gerichtetes „living agreement“ langfristig die Angleichung europäischer und amerikanischer Gesetzgebung. Diese Harmonisierung neuer Gesetzesinitiativen wäre geprägt von einer deutlich weiter als bisher reichenden Konsultation von Lobbyvertretern und davon, dass im Verbraucherschutz nicht nur EU- sondern nun auch US- und kanadische Interessen „unter einen Hut“ gebracht werden müssten.

Die Verhandlungsführer haben den Unmut in der Bevölkerung gespürt und verschiedene kritische Punkte nunmehr offiziell auf Eis gelegt. Doch kann man tatsächlich von einem Spiel mit offenen Karten ausgehen, wenn hochsensible Themen wie Gentechnik im Essen, Klagerechte für Unternehmen und eine in Teilen geplante Entmündigung europäischer Parlamente unter dem Deckmantel der Handelspolitik ursprünglich hinter verschlossenen Türen verhandelt werden sollten? Ist angesichts dieser Vorgeschichte die Ankündigung, die sogenannten „Chlorhähnchen“ seien nun kein Gegenstand der Verhandlungen mehr, nicht mehr als der Ausdruck einer gewieften Taktik mit dem Ziel, generelle Kritik durch ein medienwirksames Einknicken in ohnehin auch für die Verhandlungsführer zweifelhaften Punkten verstummen zu lassen? Handelt es sich vielmehr sogar um einen Versuch, die an eingängigen Begriffen festgemachte Kritik zu kanalisieren und für Laien schwer verständliche Themen bewusst aus der Schusslinie zu nehmen? Im Windschatten der Kritik am TTIP-Abkommen könnte es auf diese Weise nämlich das CETA-Abkommen ungeschoren über die Ziellinie schaffen. Das Abkommen mit Kanada soll zwar weniger Bereiche erfassen und deregulieren als dasjenige mit den USA. Dennoch soll das CETA-Abkommen kanadischen Unternehmen (und in Kanada niedergelassenen US-amerikanischen Tochterunternehmen) ebenfalls Klagerechte im Falle der Verletzung ihrer nahezu „grundrechtsgleichen“ Investorenrechte einräumen.

Mit ihrer Stimme bei der Wahl zum Europäischen Parlament können die europäischen Bürgerinnen und Bürger ihr Veto gegen diese möglicherweise verhängnisvolle Partnerschaft mit übermächtigen Wirtschaftsunternehmen einlegen. Das Europäische Parlament hatte mit dem Anti-Produktpiraterie-Abkommen (ACTA) jüngst schon einmal ein umstrittenes Abkommen überraschend zu Fall gebracht.

In den meisten europäischen Angelegenheiten hat das Parlament gleichberechtigte Mitentscheidungskompetenzen oder Vetorechte. Dabei kann es auch Änderungsvorschläge einreichen. Dies war etwa bei der Erarbeitung der Datenschutz-Grundverordnung für ein hohes Kundendatenschutzniveau in der ganzen EU der Fall – doch entschieden ist auch hier noch nichts. Am 25. Mai stimmen die europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher daher auch über den künftigen Umgang Dritter mit ihren persönlichen Daten und mehr Datensicherheit in Europa ab.

Erst neulich überraschte die EU-Kommission außerdem mit einer Entscheidung zur Zulassung von gentechnisch verändertem Mais, die in der Bevölkerung keine Mehrheit findet. Auch sollen Pollenrückstände gentechnisch veränderter Pflanzen im Honig keiner Kennzeichnung bedürfen. Das Europaparlament bestimmt bei der Besetzung der Kommission mit und kann auf diese Weise die „Brüsseler Kommissare“ und die EU-Politik wieder näher an die Bürgerinnen und Bürger holen. Die europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher entscheiden bei der Europawahl letztlich also auch darüber, welches Gewicht Verbraucherschutz bei politischen Entscheidungen hat und ob die letzte Verantwortung über die Reinheit unserer Lebensmittel nur auf das eigene Konsumverhalten an der Supermarktkasse abgeschoben werden kann.

An entsprechenden Online-Petitionen kritischer Netzwerke und NGOs teilzunehmen oder per Email den Kandidatinnen und Kandidaten des eigenen Wahlkreises unbequeme Fragen zur persönlichen verbraucherpolitischen Zielsetzung zu stellen und dabei kreative Antworten statt Textbausteine der Wahlkampfbüros zu verlangen, geht schnell und ist einfach. Über kritische Nachfragen könnte mancher Kandidat stolpern, der es mit einem wirksamen Verbraucherschutz nicht so genau nimmt. Hingegen können diejenigen mit Antworten glänzen, die die Interessen der europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher und deren Wählerstimmen auch wirklich ernst nehmen.

Verbraucherschutz und Europa gehören allerdings zusammen. Zahlreiche EU-Verordnungen und EU-Richtlinien, aber auch die europäischen Gerichte haben etwa im Lebensmittel- oder Umweltrecht überhaupt erst das Schutzniveau geschaffen, das es heute zu verteidigen gilt. Bilateralen Handelsbeziehungen kommt des Weiteren ein wichtiger Stabilitätsfaktor zu. In Acht nehmen sollte man sich daher vor Politikerinnen und Politikern, die bei der kommenden Wahl ebenfalls auf verbraucherpolitische Themen setzen, um erschreckend konzeptarm und aufwieglerisch gegen die gemeinsame europäische Idee auf Stimmenfang zu gehen.

Der Autor dieses Beitrags Georg Kleine arbeitet als Jurist in Kehl.

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