Über 100.000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer seit Januar

Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR veröffentlicht eine brutale Zahl - mehr als 103.000 Menschen sind seit Januar über das Mittelmeer geflüchtet. Und das sind nur diejenigen, die statistisch erfasst wurden.

103.000 Flüchtlinge sind dieses Jahr schon über das Mittelmeer nach Europa gekommen - und wie viele haben es nicht geschafft? Foto: www.frontex.eu

(KL) – Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière hat Recht – unfreiwillig. Denn seine Analyse, dass die Lösung des Flüchtlingsproblems in Afrika liegt, ist nicht falsch. Nur seine Schlussfolgerung ist falsch. Während de Maizière und seine europäischen Kollegen am liebsten in Nordafrika Krieg gegen Flüchtlinge und Schlepperbanden führen würden, wäre es der richtige Ansatz, würde man in Afrika so wirken, dass sich dort die Lebensbedingungen der Menschen so ändern würden, dass sie in ihren eigenen Ländern ein sicheres Leben führen können. Doch das wiederum ist eine Perspektive, die sich die europäische Politik nicht vorstellen kann.

Die Zahl der 103.000 Flüchtlinge bezieht sich nur auf diejenigen, die es tatsächlich bis in die EU geschafft haben – 54.000 Flüchtlinge erreichten Italien, 48.000 Griechenland, 920 schafften es nach Spanien und 91 nach Malta. Der geradezu explosionsartige Anstieg der Flüchtlingszahlen liegt natürlich an dem sich ausweitenden Konflikt mit dem Islamischen Staat, aber auch an den Problemen in Ländern wie Nigeria oder Mali. Und es ist damit zu rechnen, dass die Zahlen weiter steigen werden. Alleine in Griechenland, das schon genug mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen hat, sind in diesem Jahr schon 48.000 Flüchtlinge angekommen – im gesamten Jahr 2014 waren es „nur“ 34.000.

Was die Statistik nicht erfasst, sind die Zehntausenden Flüchtlinge, die es nicht geschafft haben. Deren seeuntaugliche Schiffe gesunken, die im Mittelmeer ertrunken sind. Die Zahl derjenigen, die es nicht nach Europa schaffen, dürfte mindestens ebenso hoch sein wie diejenige, die eine solche Überfahrt überleben. Vielleicht ist sie sogar noch deutlich höher. Wenn man bedenkt, dass alleine am Wochenende über 4.000 Schiffbrüchige im Mittelmeer gerettet wurden, mag man sich kaum vorstellen, wie viele nicht gerettet wurden. Die Entwicklung schreit nach einer Lösung auf zwei Ebenen.

Zum einen, und da liegt Thomas de Mazière falsch, kann es keine Lösung sein, auf „Abschreckung“ zu setzen. Zum Beispiel, indem man afrikanische Küstenorte bombardiert, weil man dort Schlepper vermutet. „Abschreckung“ setzt voraus, dass die Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu kommen, eine echte Wahl haben. Doch diese haben die Menschen nicht – sie flüchten vor Krieg, Bürgerkrieg, Terrorismus, religiösem Wahnsinn und Hunger. Diese Menschen müssen wir nicht „abschrecken“, sondern ihnen einen sicheren Transitkanal nach Europa eröffnen und Auffangstrukturen schaffen, die einerseits Griechenland und Italien entlasten und andererseits diesen Menschen einen sicheren Anlaufhafen bieten.

Doch parallel müssen Europa und die Welt auch in Afrika investieren – und zwar nicht in Geheimdienststrukturen, sondern in die Lebensumstände der Menschen. Denn nur, wenn die Gründe für die Fluchten der Menschen behoben werden, können sie auch bei sich zuhause bleiben, was sicherlich sowohl in ihrem, als auch in unserem Interesse liegt. Flüchtlinge „abzuschrecken“ kann dabei nicht die Lösung sein – und wir müssen uns auch fragen, ob man nicht die Hilfe für die betroffenen Länder anders organisieren muss.

So sollte man beispielsweise hinterfragen, mit welchen Diktatoren man wie zusammenarbeitet, und ob bei der Frage der Entwicklungshilfe immer unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen im Mittelpunkt stehen müssen. Eine besondere Rolle wird dabei Frankreich und Großbritannien zukommen, die durch ihre Kolonialvergangenheit in vielen afrikanischen Ländern immer noch große wirtschaftliche Interessen in den Ländern Afrikas verfolgen – beide Länder verfügen über die wichtigsten Hebel, um dabei zu helfen, dass Hilfe auch tatsächlich bei den Menschen ankommt und nicht in den Taschen korrupter Diktatoren landet.

Auf beiden Ebenen muss parallel gearbeitet werden, will man verhindern, dass das Mittelmeer weiterhin das Massengrab des Südens bleibt. Denn die 103.000 Flüchtlinge, von denen die UNHCR berichtet, sind leider nur die Spitze des Eisbergs. Und man kann nur bedauern, dass die G7-Staaten bei ihrer großartigen PR-Show auf Schloss Elmau „vergessen“ haben, zu diesem brennenden Thema etwas halbwegs Vernünftiges zu besprechen und zu beschließen.

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