(Summer special 2022) – Und was ist mit den 144 Millionen Russen?

„Das ist der Krieg von Wladimir Putin“, heißt es. Aber was ist mit den 144 Millionen Russen, deren wirtschaftliche Zukunft der Kreml-Chef gerade ruiniert. Wäre es nicht Zeit, dass die Russen reagieren?

Ja, es gibt Proteste in Russland. Aber 144 Millionen sind das nicht... Foto: BaptisteGrandGrand / Wikimedia Commons / CC-BY-èSA 4.0int

Schon am 20. März stellte sich die Frage, wie eigentlich die russische Bevölkerung zu Putins Angriffskrieg steht. Leider sind die Russen ebenso in ihrer Propaganda gefangen wie wir selbst…

(KL) – Wir unterscheiden genau zwischen Putin, Russland und den Russen und das ist sicherlich richtig so. Die Russen sind genauso sehr oder so wenig Putin, wie die Franzosen Macron sind oder die Deutschen Scholz. Und dass Putin ein diktatorischer Alleinherrscher mit einem gut geölten Militär- und Geheimdienst-Apparat ist, das weiß man auch. Aber wäre es nicht trotzdem an der Zeit, dass sich die russische Bevölkerung zu diesem Krieg positioniert?

Propaganda gibt es auf beiden Seiten, die offiziellen Verlautbarungen sind im Westen nicht zuverlässiger als im Osten. Doch auch in Russland ist es heute nicht mehr möglich, alle Informationskanäle zu kappen und wer wirklich informiert sein will, dem stehen in Russland ebenfalls Möglichkeiten offen. Wo aber ist die Reaktion der russischen Bevölkerung auf diesen unsäglichen Angriffskrieg?

Gewiss, es gibt Menschen in den russischen Städten, die für den Frieden und gegen Putin demonstrieren und dabei enorme Risiken für ihre eigene Sicherheit in Kauf nehmen. Diesen Menschen gebührt Anerkennung und Hochachtung. Aber wo sind die 144 Millionen Russen? Was denken sie? Sind sie für oder gegen diesen Krieg? Was macht die russische Opposition? Wer organisiert sich, um Putin endlich aus dem Amt zu jagen?

Die russische Öffentlichkeit ist die große Unbekannte in diesem Krieg. Abgesehen von punktuellen Aktionen von Einzelpersonen oder eben den Demonstrationen in den Städten, bekommt man von der russischen Öffentlichtlichkeit nichts mit. Gar nichts. Abgesehen von Berichten, dass sich das tägliche Leben der russischen Bevölkerung durch diesen Krieg verschlechtert hat, hört man nichts. Aber kann man dann noch sagen, dass „die Russen“ mit diesem Krieg nichts zu tun haben und dass es sich um eine Art „Privatkrieg“ von Putin handelt?

Sollte man nicht bei uns überlegen, die man die existierende russische Opposition stärken und unterstützen kann? Der Ukraine-Krieg hat mittlerweile weltweite Auswirkungen, das ohnehin nicht sehr stabile wirtschaftliche Gleichgewicht ist international angeschlagen, Neuordnungen kündigen sich an. In Europa nehmen inzwischen alle Länder ukrainische Flüchtlinge auf und die Sorgen um eine weitere Eskalation dieses abstrusen Kriegs wachsen täglich.

Der II. Weltkrieg war nicht etwa der Krieg von Adolf Hitler, sondern Hitler konnte seine Gräueltaten verüben, da er von einer extrem breiten Mehrheit der Deutschen getragen wurde. Widerstand war in Deutschland mehr als dünn gesät und wir feiern jedes Jahr die Handvoll Widerstandskämpfer, die zweifelsfrei identifizierbar sind. Der II. Weltkrieg war also der Krieg der Deutschen, und ebenso ist der Ukraine-Krieg auch der Krieg der Russen, da offenbar in Russland nicht viel passiert, was darauf abzielt, dem Zar Vlad in den Arm zu fallen.

Nach mehr als 20 Tagen dieses Kriegs verstehen wir immer noch nichts. Was will Putin? Was wollen die Russen? Was will Selenskyi? Was wollen wir? Die Lösung dieses Kriegs liegt vermutlich nicht in der Ukraine, nicht in den USA und nicht in Europa – sondern in Russland. Vielleicht sollten wir anfangen, unseren Blick auch etwas kritischer nach Osten zu lenken.

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