Und was passiert als nächstes?
Frankreich bereitet sich auf die nächsten Großdemonstrationen vor. Denn der Verfassungsrat hat das Gesetz über die neuen Covid-Maßnahmen praktisch unverändert durchgewunken.
(KL) – Viele Franzosen hatten noch Hoffnungen, dass der Verfassungsrat doch noch substantielle Änderungen am geplanten und bereits abgestimmten Gesetz zu den neuen Covid-Maßnahmen vornehmen würde. Doch das ist am Donnerstag nicht passiert, so dass diese neuen Maßnahmen ab Montag gelten. Doch viele Franzosen lehnen diese neuen Maßnahmen ab und da es sich nicht nur um eine kleine Minderheit handelt, sondern um 25 bis 40 % der Bevölkerung, muss man damit rechnen, dass sich die Proteste und die Mobilisierung weiter ausdehnen und irgendwann auch gewalttätiger werden.
Wohin die Reise in Frankreich geht, wird immer unklarer. Deutlich wird nur, dass die Spaltung der französischen Gesellschaft inzwischen eine Tatsache ist und dieser Umstand ist Gift für den Zusammenhalt der Bevölkerung. Der Graben, der mittlerweile zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften verläuft, wird täglich durch die Kommunikation der Regierung weiter angeheizt. Laut Präsident Macron ist die Impfung ein „patriotischer Akt“, was im Umkehrschluss bedeutet, dass Impf-Zweifler „unpatriotisch“ sind, also „Feinde Frankreichs“. Bei solchen Kommunikationen darf sich niemand wundern, dass die Spannungen und das gegenseitige Unverständnis beider Lager täglich steigen.
In anderen Ländern, wo ähnliche Maßnahmen wie in Frankreich in der Diskussion sind und teilweise bereits in der Praxis implementiert wurden, versucht man, diese Spaltung der Gesellschaft zu verhindern, statt sie zu befeuern. Doch diese Spaltung dürfte Macrons letzte Chance auf eine Wiederwahl im nächsten Jahr sein. Das, was die Pandemie für Macron ist, waren die Anschläge vom 9/11 für George W. Bush – eine einmalige Gelegenheit, sich als „Retter der Nation“ darzustellen und somit verlorene Wählerstimmen zurückzugewinnen. Doch der Preis für diese Wahlkampf-Strategie könnte sehr hoch sein.
Die beschlossenen Regelungen sind strikt, aber durchaus mit denen in anderen Ländern vergleichbar. Praktisch überall dort, wo man mit anderen Menschen zusammenkommen kann, ist ab Montag die Vorlage des „Sanitären Passes“ erforderlich und wer (noch) nicht über einen solchen Pass verfügt, ist ab Montag vom öffentlichen Leben faktisch ausgeschlossen. Auch die Zwangsimpfung von Pflegepersonal ist keine französische Erfindung – auch diese Regelung gibt es in zahlreichen Ländern. Doch nirgendwo anders ist die Einführung solcher Regelungen von derart heftigen Protesten begleitet wie in Frankreich und die letzten drei Samstage, bei denen Hunderttausende in Frankreich demonstrierten, waren lediglich der Auftakt zu einem befürchteten „heißen Herbst“.
Diesen „heißen Herbst“ wird Macron nutzen, um sich als „starker Mann“ zu positionieren, der durch massiven Einsatz der Polizeikräfte die Ordnung im Land aufrechterhalten wird. Das könnte sogar klappen, wäre das Protestpotential nicht derart groß. Die Vorstellung, dass man im Jahr 2021 eine Art Bürgerkrieg gegen seine eigene Bevölkerung „gewinnen“ kann, ist abenteuerlich.
Auch, wenn das in Frankreich niemand so richtig wahrhaben will, so steuert das Land auf einen selbst fabrizierten Konflikt hin, gegen den die anderthalb Jahre der rund 60 „Akte“ der „Gelbwesten“ ein laues Lüftchen waren. Die Gefahr ist groß, dass Frankreich in den kommenden Monaten aus wahltaktischen Gründen im Chaos versinkt. Was die Chancen, die Pandemie zu bekämpfen, auch nicht gerade erhöht.
Als Kind war ich auf einem Rummelplatz einmal in einem Raum voller Spiegel. Ich ging hinein, erst ganz forsch, dann vorsichtiger. Die Menschen, die ich in den Spiegeln sah, wirkten wie Monster, mit riesigen Kopfen und kleinen kurzen Beinen. Ich ging weiter und stand plotzlich Kopf, als ware die Schwerkraft aufgelost, ins Gegenteil verkehrt. Der nachste Spiegel verschluckte Arme, Beine, Rumpf. Mein Kopf schwebte ohne Korper, wie ein Aladin, aber ohne magische Krafte. Wenn ich in der vergangenen Woche von der Unsicherheit der Abiturschuler gelesen habe, die nicht wissen, ob sie ihre Prufungen schreiben oder ob sie ein Not-Abitur ablegen werden, die sich Sorgen machen um Verwandte und ihre Zukunft, dann fiel mir das Spiegelkabinett ein. Es beschreibt mein Gefuhl im Jahr 1990, ein Gefuhl der Verlorenheit. Ich war damals Schulerin in Eisenhuttenstadt, kam im September in die zehnte Klasse. Das Abitur war noch zwei Jahre hin, aber trotzdem bestimmte es alle unsere Gesprache und Gedanken. Was wurde aus uns werden? Wurden wir Abitur machen konnen? Und was ware dieses Abitur wert? In den Monaten zuvor hatte sich alles um uns herum geandert: Land, Wahrung, Schulsystem. Die DDR war zusammengebrochen, in sich zusammengefallen, im Juli war die D-Mark eingefuhrt worden, im Oktober 1990 wurde die DDR verschwinden. Erst ein Jahr zuvor, im September 1989, war ich in eine Sprachspezialklasse, die sogenannte Talente-Klasse der EOS Clara Zetkin in Eisenhuttenstadt, aufgenommen worden und ins Internat gezogen. Ich war sehr stolz, ich war erst die Zweite in der Familie, die Abitur machen sollte. Es war eine besonders strenge Schule, fur einen Witz uber das Politburo konnte man im Herbst 1989 noch der Schule verwiesen werden. Selbst die unbeliebtesten Lehrer konnten sich drauf verlassen, dass ihre Autoritat nicht infrage gestellt wurde.